Wenn das der Führer wüßte
allmählich von der Erscheinungswelt ablöst, sich ablösen muß. Also durch Erkenntnis und Entschluß – das ist der springende Punkt! Und so kommt es zu Erscheinungen, die dem Durchschnittsmenschen von heute – vielleicht auch Ihnen, wenn Sie gestatten – einfach zustoßen, ohne daß er sich dagegen wehren kann. Er rutscht gleichsam in eine künstliche Schizophrenie hinein; das Wachen wird zum Traum und vice versa, der Traum wird zum Trauma …“
„Hunger, Hunger“, murmelte der Chor der Beisitzer und scharrte jetzt lauter mit den Füßen.
„Geduld, meine Freunde, ich läute.“ Der Vorsitzende drückte auf einen Klingelknopf. „Es ist durchaus verständlich, daß unser Durchschnittsbürger, da er dem Aggressionstrieb der Machthaber wehrlos ausgesetzt und seines Selbstbestimmungsrechtes, ja überhaupt aller menschlichen Rechte beraubt ist, einen neuen metaphysischen Halt sucht, einen neuen Gott, dessen Existenz er sich allerdings erst beweisen muß. Der Mensch hat Halluzinationen – aber nützt ihm das? In der Halluzination der Gottesvorstellung, im Wunschbild der Vater-Imago, sehen wir immerhin schon das Bestreben, den Teufelskreis des Autismus, in dem der heutige sogenannte Gesunde wie in einem Käfig gefangen sitzt, zu sprengen und seiner Wunschwelt den Charakter des Wirklichen zu erkämpfen. Die Gottesvorstellung gibt ihm in einer erbarmungslosen, unwirtlich gewordenen Welt Trost, und Trost bedeutet Geborgenheit oder deren Illusion, also ein Lustgefühl, einen Lustgewinn – – – die Gotteshalluzination führt Wunsch und Wirklichkeit zusammen, löst beide ineinander auf. Die Magie zeigt, wie Freud, Rank, Ferenczi und andere nachgewiesen haben, einen ähnlichen Versuch, der Wunschwelt Objektivität zu erobern. Das sind Grundkräfte und letzte Instanzen. Der echte Schizophrene hat der Wirklichkeit jeden Realitätscharakter entzogen, dies natürlich jenseits der Gottesvorstellung – soweit seine Krankheit eben reicht. Der sogenannte Gesunde dagegen kann sich mittels der Gottesvorstellung aus seinem autistischen Gefängnis, in das er sich aus einer viel schrecklicheren Welt geflüchtet hat, befreien. Und weil es eine realistische Revolution unter den heutigen Verhältnissen nicht geben kann, halten wir Gundlfingers Metaphysik für einen politisch revolutionären Akt – – – wenn unsere jüngsten Informationen nicht trügen, wissen das leider auch die Verfechter des NATMAT –“
Der Mechaniker kam aus einer Seitentür und unterbrach den perlenden Redefluß des Vorsitzenden: „Es ist Punkt zwölf, das Essen ist angerichtet. Ich habe für neun Personen gedeckt.“
„Das heißt“, sagte der Vorsitzende zu Höllriegl, „es ist auch für Sie gedeckt.“ Und bevor Höllriegl etwas entgegnen konnte, hatten sich die Herren von ihren Sitzen erhoben und drängten zum Ausgang. Der Vorsitzende faßte Höllriegl freundschaftlich am Arm – „Wer von Gundlfinger kommt, gehört zur Familie … mein Name ist Kofut, Professor Kofut-Eisenach, Pseudonym Cunnilingus“, sagte er leise und gütig und mit jener penetranten Väterlichkeit, die allen Chefs von psychiatrischen Kliniken eigentümlich ist – und geleitete ihn in einen ebenso wohlig temperierten Nebenraum.
Ein frugales, aber überreichliches Essen stand bereit. In der Mitte der langen Tafel, die mit Föhrenzweigen geschmückt war, dampfte der Eintopf in einer irdenen Schüssel. Außer den fünf Gelehrten, Höllriegl und dem Mechaniker waren noch zwei Männer mittleren Alters anwesend, schmutzig, abgerissen und unrasiert, deren entsetzlich eingefallene Gesichter Höllriegl auf Anhieb bekannt vorkamen; nur wußte er nicht, wo er sie hintun sollte. Die beiden trugen braune Uniformen und Schaftstiefel.
Die Tischgesellschaft langte reihum zu, der Vorsitzende machte den Anfang. Das Wasser war frisch und hatte einen angenehm metallischen Geschmack. „Wir haben im Stollen einen Säuerling entdeckt“, erläuterte der Vorsitzende, der Höllriegl an seine Seite gebeten hatte. Es wurde schweigend gegessen, die vier Beisitzer entpuppten sich als Vielfraße.
Die Männer in Uniform hatten einen unsteten Blick; ihr gehetztes Wesen fiel auf, ebenso, daß sie zum Umfallen müde waren. Als man satt war und nur noch, sozusagen zum Nachtisch, Schnitten eines weichen, schwärzlichen Bauernbrotes verzehrte, sagte der Vorsitzende halblaut zu Höllriegl: „Es sind Flüchtlinge, denen wir politisches Asyl gewähren. Wir bemühen uns, sie wieder auf die Beine zu
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