Wenn das der Führer wüßte
und frisch geschnittenem Nadelholz roch. Die Bergstraße vor ihm glänzte schwarz und schuppig wie eine Schlange. Nach einer Weile kam er an einem Sägewerk vorüber, das luftschutzmäßig verdunkelt war; die Maschinen stampften, und die Sägen kreischten, aber Arbeiter waren nicht zu sehen.
Die ganze Gegend lebte von der Walpurgisnacht, und Höllriegl ergötzte sich an den Versen aus Goethes „Faust“, die dann und wann, zusammen mit einer launigen Hotelreklame, auf Straßentafeln zu lesen waren. Die Tafeln stammten sichtlich aus einer Zeit, da das Harzgebirge noch als touristische Sehenswürdigkeit und Einzugsgebiet klassischer Quellen galt. Goethes „Faust“, die Dichtung eines Erzfreimaurers, Französlings und Plutokratendieners, war mittlerweile arg in Verschiß geraten. Die Partei hatte zwar die Existenz Goethes aus dem Kulturbewußtsein der Nation noch nicht zur Gänze tilgen können, aber man unterschlug ihn nach Kräften, im Schrifttumsunterricht wurde er nur am Rande erwähnt, und in den Napolas stand er überhaupt auf der Abschußliste. Kein Zweifel, der Tag war nicht mehr fern, an dem Goethes Werke ins Feuer neuer heilsamer Scheiterhaufen geworfen würden.
Das Nebelmeer blieb im Tal zurück, der Regen ließ nach. Höllriegl hatte klare Sicht, und so beschleunigte er die Fahrt. Als er in die Landstraße nach Sauckelruh einbog, hörte er das vertraute Geheul von Luftschutzsirenen, und auch in den Tälern unten stöhnte und rumorte es. Das war Rak-Alarm, keine Vorwarnung. In westlicher Richtung flammten am Horizont orangegrelle Blitze auf – Höllriegl bremste den Wagen, der Herzschlag hatte ausgesetzt. Er sah, wie nach einer Weile ein fleckiges Rot die Wolken überzog, sie schienen dort zu glosen, als wäre gerade die Sonne untergegangen. Weiter, weiter!
Soviel in der Dunkelheit auszunehmen war, lag Sauckelruh am Ende eines bewaldeten Tales, die Straße hatte hier ein Ende. Auf dem Hauptplatz war es stockfinster, Autos standen dichtgedrängt nebeneinander, und nur mit Mühe konnte er eine Parklücke finden. Keine Katz zu sehen. Eine Seuche schien das Örtchen überfallen zu haben.
Höllriegl dachte – nicht zum erstenmal heute – an die goldene Stimme, die er im „Fernmund“ vernommen hatte, es schien eine Ewigkeit her zu sein. Insgeheim freute er sich auf die Begegnung, doch es war nicht Neugierde. Gehörte die Stimme einer Frau? Wenn ja, dann mußte sie jung und schön sein – und rein. Reinheit! Er sehnte sich danach.
Soweit er die „mutterdeutschen“ Ausdrücke verstanden hatte, gab es hier ein paar gute Hotels. Jedoch bei dieser Verdunkelung und Menschenleere etwas Bestimmtes zu suchen, hätte wenig Sinn gehabt. An der Ortseinfahrt war er an einer Tankstelle vorbeigekommen, wahrscheinlich gab es dort auch ein Motel. Nein, er wollte nicht umkehren, er wollte in die nächstbeste Wirtschaft, um etwas zu essen, denn er verspürte Hunger. Vielleicht war auch ein Zimmer frei.
Er sah sich um und knipste die Taschenlampe an. Die Häuser, zum Großteil Villen im Baustil der Wilhelminischen Ära (sie erinnerten an das Springorum-Schloß der Eyckes), waren sorgsam abgedunkelt. Allem Anschein nach Unterkünfte für Sommerfrischler, worauf auch die Namen deuteten: „Zum Brockengespenst“, Pension Trödelhexe, Gasthof zur Teufelskanzel, „Zur Brockenmyrte“, „Zum Hexenaltar“, Villa Baubo, „Zur Blocksbergnacht“ und so weiter. Er fand einige ländliche Häuser mit Fachwerkfassaden.
Die Gäßchen, die auf den Platz mündeten, waren nachtschwarze Schächte. Höllriegls Schritte hallten auf dem Pflaster. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe tastete über Mauern, geschlossene Fensterläden, Gitterzäune. Bei einer Herberge – sie hatte einen verschnörkelten Namen („Zum Proktophantasmisten“ entzifferte er) und machte mit ihren Butzenscheiben den Eindruck einer Bühnendekoration – hielt er an und schlug mit dem Klopfer an die Tür, da sie verschlossen war. Nach mehrmaligem Klopfen, die Schläge dröhnten in der Totenstille, hörte er, daß schlapfende Schritte sich der Tür näherten. Eine dickliche Person, unordentlich gekleidet, wie man sogar in dem düsteren Blaulicht erkennen konnte, musterte ihn mißtrauisch.
„Ich möchte ein Zimmer für die Nacht – habt ihr eins frei?“
Das Weib warf die Tür ins Schloß und verriegelte sie. Nach einer Weile – Höllriegl, ärgerlich geworden, wollte schon fort – wurde wieder geöffnet, diesmal von einem Mann, der Kleidung nach der
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