Wenn das Dunkle erwacht (German Edition)
mehr.“
„Es geht auch gar nicht um das Blut, sondern darum, dass du gar keinen Grund gehabt hast, plötzlich auf mich einzuprügeln.“
Sein beleidigter Gesichtsausdruck ließ sie schmunzeln. „Würde es helfen, wenn du mir auch eine runterhauen darfst?“
Saige hatte nie zuvor gesehen, wie ein Mann seine Lippen zu einem Kussmund zusammenzog, und war ganz fasziniert von dem Anblick. „Ich schlage keine Frauen.“
„Bloß weil ich eine Frau bin“, belehrte sie ihn, „heißt das nicht, dass ich mich nicht verteidigen könnte. Ich bin mit zwei
älteren Brüdern aufgewachsen. Ich habe früh lernen müssen, wie man mit schmutzigen Tricks kämpft.“
„Keine Sorge.“ Er wandte den Blick auf den Weg vor ihnen. „Ich halte dich nicht für schwächlich, Saige. Bloß für verrückt.“
Da sie keine Ahnung hatte, ob er das ernst meinte oder sie nur auf den Arm nehmen wollte, hielt Saige lieber den Mund, bis sie die nächste Ecke erreichten. „Javier wohnt da drüben.“
„Sorg wenigstens dafür, dass du schnell wieder draußen bist“, murmelte er und musterte sorgfältig die Umgebung. Hier oben auf dem Hügel standen wieder viele Häuser dicht an dicht, sodass man kaum sagen konnte, wo das eine aufhörte und das nächste anfing, die drei- und vierstöckigen Gebäude wirkten durch die vielen Balkons und Vordächer, als könnten sie jeden Augenblick zusammenbrechen. Sie erinnerten Saige immer an von Kindern aufeinandergetürmte Spielklötze, die von jedem Windstoß umgeworfen werden konnten. „Mir gefällt es hier nicht“, fuhr ihr Begleiter fort. „Wir sind gar nicht weit weg vom Dschungel, und man kann sich hier überall verstecken.“
„Ich brauche höchstens eine Minute“, versicherte sie ihm und zog den Rucksack fester über die Schultern. Saige stieg ein paar Stufen hoch und wollte an die Erdgeschosstür klopfen, zuckte aber bei jedem Geräusch zusammen, das aus den Häusern in der Nähe drang. Offensichtlich waren ihre Nerven doch ziemlich mitgenommen von ihrer kürzlichen Begegnung mit dem Tod. Außerdem machte sie sich Sorgen um ihre Freunde.
Sie blies sich eine Locke aus den Augen, klopfte einmal und … wartete. Dann klopfte sie noch einmal. Mit gerunzelter Stirn griff sie nach der Klinke, als Quinn hinter ihr tief die Luft einsog, plötzlich ihr Handgelenk packte und mit eisernem Griff festhielt.
„Was soll das?“, flüsterte sie und warf ihm einen erstaunten Blick zu. Durch die Berührung spürte sie eine seltsame Energie, die wie Hitzewellen in ihren Körper floss, und die Beklemmung wuchs weiter.
„Du kannst da nicht reingehen“, sagte er beinahe tonlos.
Ihre Augen wurden groß. „Aber das sind alles Freunde von mir. Keiner aus Javiers Familie wird mir etwas tun.“
„Es ist zu spät.“ Grimmige Resignation war in seinem Gesicht zu lesen. „Komm schon.“
„Was?“ Saige wollte seine Finger mit der anderen Hand lösen. „Wovon redest du überhaupt?“
„Casus“, grollte er.
„Ca…“ Das Wort blieb in der Luft hängen, als sie plötzlich einen komischen Geruch wahrnahm, der durch die Tür drang, und ihr drehte sich der Magen um.
Großer Gott, nein. Nein. Nein. Nein.
„Javier!“, keuchte sie, wollte mit der anderen Hand nach der Klinke greifen, aber Quinn legte ihr den linken Arm um die Taille, zog sie weg von der Tür und die Stufen runter.
„Glaub mir, Saige. Du willst nicht sehen, was da drin ist.“ Seine Stimme klang hart, aber doch auch bezwingend sanft, während sein Blick aufmerksam die Straße entlangglitt. Im Augenblick war niemand zu sehen, nur das Geplapper und Geklapper der Familien, die gerade in ihren Häusern zu Abend aßen, drang durch die geöffneten Fenster nach draußen.
Wind kam auf, und die Gerüche der Mahlzeiten verbanden sich mit denen von Blut und verkohltem Fleisch. „Ich kann doch nicht … ich kann doch nicht …“, stammelte sie. Sie musste unbedingt wissen, was passiert war. Sie konnte jetzt nicht weglaufen – nicht wenn die Möglichkeit bestand, dass Javier da drin war, verletzt und blutend, aber noch am Leben.
Mit einer plötzlichen Bewegung entwand Saige sich Quinns eisernem Griff, rannte wieder die Stufen hoch, und ihr Rucksack fiel hin, als sie die Klinke drückte. Die Tür ging nicht auf, sie rammte mit ihrer Schulter dagegen, das Schloss brach gleich beim ersten Mal. Im Hinterkopf war ihr durchaus bewusst, dass ihre Kraft eigentlich nicht ausreichen sollte, um eine Tür aufzubrechen, und sei sie auch noch so alt, aber
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