Wenn das Glück dich erwählt
brachte es nicht übers Herz, ihrem Kind die wenigen Minuten frischer Luft und Bewegung zu versagen, weil sie wusste, dass es bald schon wieder bitterkalt sein würde. Sie schaute jedoch zur halb offenen Tür hinüber, um sich zu vergewissern, dass Abigail noch immer in Sichtweite spielte.
»Mich stören?«, entgegnete sie ausweichend.
Scully räusperte sich. Evangeline hatte den Eindruck, als wolle er das Thema damit ruhen lassen, aber zum guten Schluss tat er es dann doch nicht. »Ja. Eve, der Mann war doppelt so alt wie Sie! Was Big John im Übrigen auch ist. Sehnen Sie sich denn nie nach einem ... nun ja ... nach einem Jüngeren?«
»Ich sehne mich nach vielen Dingen«, erwiderte Evangeline ein wenig barsch. »Doch in diesen schweren Zeiten gibt es nicht viele Wünsche, die Erfüllung finden, falls Sie das noch nicht bemerkt haben sollten, Mr. Wainwright.«
»Dann trägt also der Krieg die Schuld daran.«
Evangeline schaute ihn an. »Der Norden mag zwar gesiegt haben in dem Konflikt, aber sie - wir - haben teuer dafür bezahlt. Unsere besten, stärksten und tapfersten Männer sind der Preis dafür gewesen.«
»Es war bei uns nicht anders«, sagte Scully und sprach für die Konföderierten. »Der Süden wurde in die Knie gezwungen.«
Evangeline benutzte zwei leere Mehlsäckchen als Topflappen, hob einen der Kessel vom Herd und schleppte ihn zum Waschzuber, den sie neben die Tür geschoben hatte. So würde es später leichter für sie sein, ihn auszuleeren, nachdem sie die Laken und verschiedene andere Kleidungsstücke ausgewaschen hatte.
»Dann müssten Sie sich doch denken können, welchem Chaos wir gegenüberstanden, vor allem nach der Schlacht bei Gettysburg«, erwiderte sie, ohne auf ihre politischen Gegensätze einzugehen. Irgendwann musste er doch aufhören, dieser Streit und Groll auf beiden Seiten. »Es gab nicht viele Männer, die um meine Hand anhielten.«
Scully schwieg eine Zeit lang, nachdem sie Gettysburg erwähnt hatte. Vielleicht hatte er Männer gekannt, die dort gefallen waren, oder war sogar dabei gewesen und hatte mit eigenen Augen dieses Massaker gesehen. Und daran teilgenommen.
»Man hat es als Frau nicht leicht, nicht wahr?«, bemerkte er nachdenklich.
Diese Frage entlockte Evangeline ein Lächeln. Sie war so ungefähr das Letzte, was sie von einem sturen, Waffen tragenden und Wölfe tötenden Rancher hier im Wilden Westen erwartet hätte. »Nein, Scully«, erwiderte sie, »es ist wirklich nicht leicht.« Ihr Lächeln verblasste, wenn sie an die endlosen Reihen verwundeter Soldaten nach dem Zusammenstoß der feindlichen Armeen auf jenem Maisfeld in Pennsylvania dachte. An die Schreie und das Blut und den entsetzlichen Geruch. An die abgerissenen Körperteile und gebrochenen Herzen. An die Sterbenden, die Fliegen und die gnadenlose Hitze. Ein Mann zu sein war auch kein Kinderspiel. »Ich glaube, es wäre richtiger zu sagen, dass es nicht einfach ist, ein Mensch zu sein. Aber es hat auch seine Vorteile.«
Er nickte zustimmend zur Tür, wo Abigail zu sehen war.
Sie hüpfte mit einem unsichtbaren Seil und sang mit lauter Stimme Kinderlieder. Scully grinste. »Wie Ihre Kleine dort«, stimmte er ihr zu. »Sie ist ein großartiges Kind, Eve. Und Sie sind eine wunderbare Mutter.«
Das Kompliment ließ sie erröten, das spürte sie. Oder lag es vielleicht daran, dass er sie wieder »Eve« genannt hatte? Wahrscheinlich hätte sie ihn tadeln sollen für diese vertraute Anrede, aber sie konnte sich nicht dazu überwinden. Niemand hatte sich je die Mühe gemacht, ihren Namen abzukürzen, und dass er es tat, gab ihr das Gefühl, geliebt zu werden und nicht ganz so allein zu sein auf dieser Welt.
»Danke«, sagte sie, während sie sich vor den Zuber kniete und ein Waschbrett darüber legte, um die Bettlaken zu schrubben. Obwohl der Himmel am Abend zuvor bewölkt gewesen war, war er heute klar und blau, und sie wollte die Wäsche so schnell wie möglich hinausbringen und auf die Sträucher hängen, bevor das Wetter sich verschlechterte.
»Ist es Ihnen schwer gefallen, sie hierher zu bringen? Ich meine, wo Sie doch wussten, dass es hier keine Schule gibt und so?«
Evangeline seufzte, während sie die Laken einseifte. Eine herrlich frische Brise wehte in die Blockhütte, zerzauste ihr Haar und kühlte ein wenig ihre überhitzte Stirn. Sehnsüchtig dachte sie an den Frühling, der noch so weit entfernt war, und hoffte gleichzeitig, er möge niemals kommen. Denn mit dem Jahreszeitenwechsel
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