Wenn das Herz im Kopf schlägt
riesigen Eichen läuft sie die immer kühle Auffahrt entlang, zum Briefkasten
.
»Hallo mein Mädchen! Na, hast du wieder Post nach Köln?« Onkel Klaus fährt ein gelbes Fahrrad und trägt eine Uniform. Onkel Klaus ist Papas Cousin
.
- 9 -
Klara steht auf der Treppe. Er schlägt die Wagentür seines BMW zu, drückt auf den Griff des Autoschlüssels und hört das leise Surren der Zentralverriegelung. Klara hat ihn erst einmal auf der Treppe erwartet. Damals war Jörg vom Trecker gefallen und mit dem Notarztwagen abtransportiert worden.
»Die Anna war hier!« Sie greift sich an die Stirn.
»Anna? Welche Anna?« Er hört ihre aufgeregten Erklärungen wie durch einen Tunnel. Er braucht ihre Erklärungen nicht. Die Umrisse des Hauses verschwimmen. Er wankt – schnappt nach Luft. Er spürt Klaras Hände auf seiner Brust, sie zerren an seinen Armen, drehen ihn zur Seite.
»Setz dich, Ludwig! Mein Gott, so setz dich doch!«
Er sackt langsam, das Treppengeländer mit beiden Händen fest umklammernd, auf die vorletzte Stufe. Die Alte hatte ihn gehasst, all die Jahre hatte sie ihn gehasst. Weil er lebte! Weil ihre Söhne tot waren! Und jetzt hat sie sich gerächt, hat aus ihrem Tod eine letzte große Abrechnung gemacht. Er legt die Ellbogen auf die Oberschenkel. Seine Hände hängen nutzlos zwischen den Knien. Sein Blick wandert über die Stallungen, vorbei an den beiden Silos und weiter über die Äcker. Nichts von all dem gehört jetzt noch ihm. Die Banken und Gietmann werden kommen und ihr Geld verlangen.
Er hat geschuftet, ein Leben lang geschuftet. Erst der kleine Hof, auf dem jetzt Gerhard mit seiner Familie wohnt. Und dann sein vermeintlich großes Glück, als die Alte ihm den Behrenshof auf Erbpacht überschrieb.
Johann war ein fauler Großkotz gewesen. Der Hof war heruntergekommen, und er musste investieren. Er hatte auf Milchwirtschaft im großen Stil gesetzt. Er hatte zusätzliches Milchvieh gekauft, Melkmaschinen, ein Kühlhaus für die Tanks. Ein paar Jahre ging alles gut, und dann, in den Siebzigern, brach der Milchpreis immer weiter ein. Die großartig versprochenen Subventionen der EG flossen nur spärlich, und zum Schluss produzierte er Milch zum Nulltarif. Die Schulden waren geblieben.
Schweinezucht, hieß es dann, mit Schweinen kann man noch Geld verdienen. Gerhard, sein Ältester, war inzwischen Filialleiter bei der Bank. Die Wiesen, hatte er ihm damals gesagt, die Wiesen sind Bauland, und im Grunde gehören sie doch uns.
Er besorgte ihm einen Teil des nötigen Geldes. Ohne wirkliche Sicherheiten, nur seinen Worten vertrauend. Den Rest gab Gietmann. Der hatte während der Bebauung seiner Grundstücke ein Bauunternehmen gegründet. Auch er brauchte nichts Schriftliches. Nur die Bauaufträge, wenn die Wiesen endlich seine wären, die wollte er zugesichert haben. Zwei Schweineställe hatte er bauen können. Von fünf Uhr in der Früh bis abends um zehn hatten er, seine Frau und sein Sohn Jörg geackert.
Und dann kam 1995 das Hochwasser, und seitdem standen zwanzig Hektar seines Landes zur Diskussion. Retentionsraum, nannten sie das. Die Holländer planten, beim nächsten Hochwasser den Polder direkt an der Grenze zu überschwemmen, und das würde automatisch bedeuten, dass auch die Polder auf der deutschen Seite überschwemmt würden. Zwanzig Hektar seines Ackerlandes würden Brachland. Wiesen – natürlich. Aber was will man mit Wiesen, wenn Milchwirtschaft keinen roten Heller einbringt?
Seine Hände füllen sich abrupt mit Leben. Er greift zum Geländer und zieht sich hoch.
»Hör auf zu heulen!« Seine Stimme zischt. »Du magst Recht haben, wenn du sagst, der Behrenshof ist ein Unglückshof. Aber das hier ist seit Jahren der Lüdershof! Begreif das endlich!«
Samstag, 10. März 2001
- 10 -
Draußen empfängt ihn ein diesiger Märzmorgen. Die kalte Luft füllt seine Lungen. Die Feuchtigkeit legt sich auf seinen kahlen Kopf, bildet Tropfen in seinem grauen Haarkranz und kühlt sein Gesicht. Er geht mit zunehmendem Tempo und spürt, wie sein Körper sich von innen her aufheizt und die Wärme bis in seine Muskeln dringt. Er steigt die schmale, in den Deich eingelassene Treppe hinauf. Der Nebel zieht in dichten Schwaden über den alten Rhein. Hier oben auf dem Deich flüstert ein leichter Wind in die Stille. Schon nach einem Kilometer ist die kalte Feuchtigkeit im Gesicht nicht mehr unangenehm, sondern willkommene Abkühlung. Jeder Schritt führt ihn tiefer in den Nebel, weiter weg von
Weitere Kostenlose Bücher