Wenn das Herz im Kopf schlägt
Stille, die sie kennt und die sie so schlecht erträgt. Die Bilder waren gefährlich. Sie hatten, als sie sie nicht loswerden konnte, Selbstmordversuche und Psychiatrieaufenthalte nach sich gezogen.
Ihr Mann hatte es nicht ertragen. Ihre Tochter hat es ertragen müssen.
Ohne Licht einzuschalten geht sie ins Bad und zieht sich aus. Dann dreht sie das Duschwasser an, stellt es so heiß, dass sie es gerade noch aushalten kann. Das Wasser schmerzt auf Schultern und Rücken. Es muss lange schmerzen, bis sie sich wieder spürt. Es muss lange schmerzen, bis sie den Bildern entkommt.
Freitag, 12. April 2000
- 3 -
Das flache Land mit seinen Wiesen und Feldern, die bis zum Horizont reichen, beginnt rechts und links von der Autobahn. Obwohl nur hundertzwanzig Kilometer von Köln entfernt, ist sie nie wieder hier gewesen. Kleve ist ihr fremd. Kleve ist in ihrer Erinnerung eine Burg und eine Weihnachtsdekoration in einem Schuhgeschäft. Im Fenster hatte ein riesiger Engel gestanden und sanft mit den Flügeln geschlagen.
Die Rechtsanwaltskanzlei Kley findet sie schnell.
Sein Beileid spricht der kleine, alte Mann routiniert aus. Dass es kein Testament gibt und sie somit Alleinerbin ist. Ausweisen muss sie sich und unterschreiben – »hier und da. Bitte.«
»Den Schlüssel können Sie sich bei Lüders abholen – auf dem Behrenshof.«
Anna spürt, wie die Muskeln ihrer Oberschenkel sich verkrampfen. Sie schaut ihn mit großen Augen an. »Lüders?«
Sein professioneller Gleichmut fällt augenblicklich von ihm ab. »Ja, ja. Lüders hat den Hof damals gekauft, wenn man da von kaufen überhaupt reden kann.« Er wird groß auf seinem ledernen Schreibtischsessel. »Er hat mich schon dreimal angerufen. Ich habe ihm gesagt, dass ich nichts sagen kann. Dass die Angelegenheit noch nicht abgeschlossen ist.« Das hat er gerne gesagt. Da ist er zufrieden mit sich. »Er ist der Meinung, die Kate, die Wiesen und der Wald wären jetzt auch seins.« Dem Satz verleiht er Nachdruck, indem er bei den Worten Kate, Wiesen und Wald mit spitzem Zeigefinger auf den Tisch sticht.
»Ich wusste nicht, dass Lüders den Hof ...« Sie schluckt.
Wieder attackiert er die Tischplatte, benutzt die Klopfzeichen, um einzelne Worte zu unterstreichen. »Direkt nach dem Selbstmord Ihres Vaters. Auf dem Friedhof wollte der damals einen Termin mit mir machen. So was ist mir mein Lebtag noch nicht untergekommen.« Der kleine, blasse Mann hat jetzt rote Flecken im Gesicht.
Anna bedankt sich und reicht ihm die Hand. Sie spürt Übelkeit aufsteigen.
Lüders!
Die schwere Haustür schiebt sich hinter ihr ins Schloss.
Kein Zurück. Ausgesperrt!
Sie hat unterschrieben. Kein Zurück. Eingesperrt!
Eingesperrt in einem kleinen Dorf am Niederrhein. Eingesperrt in der Enge ihrer Kopfbilder. Lüders. Der kleine Nachbarhof.
Sie geht zum Auto. Lüders! Ein großer Mann mit lauter Stimme. Sie fädelt sich in die Autoschlange stadtauswärts ein. Lüders! Eine Frau in bunten Kittelkleidern. Sie biegt links ab Richtung Nimwegen. Lüders! Einer der Männer in ihrem Kopf?
Auf der Landstraße muss sie das Lenkrad nur festhalten. Rechts und links kleine Orte mit spitzen Kirchtürmen, die sich in dieser Weite, in der sich alles andere zu ducken scheint, den direkten Weg ins Himmelreich bohren. Grasende Pferde und Tausende von wiederkäuenden Kühen. Wiesen, parzelliert durch kleine, mit Kopfweiden eingefasste Wasserläufe, die in heißen Sommern austrocknen und im Herbst stetig steigen, bis alles Land unter einem feinen, zittrigen Wasserspiegel wartet. Wiesen, die in kalten Wintern zufrieren, auf denen Kinder auf Schlittschuhen nach Holland laufen.
Lüders hat den Behrenshof gekauft! Lüders hat das Blut vom Zementboden gescheuert und sich eingerichtet. Anna spürt ihr Herz im Kopf schlagen. Sie zwingt sich, ruhig und tief zu atmen. Wenn ihr Herz im Kopf schlägt, kann sie nicht denken.
- 4 -
Er schwenkt seinen Gehstock. Mit jedem Schritt hebt er ihn an, bringt ihn in die Waagerechte und hält ihn – für den Bruchteil einer Sekunde – in dieser Position. Dann, dem Griff mehr Spiel lassend, fällt die Stockspitze mit einem metallischen Klack auf den Asphalt, und er beginnt von vorn. Der Wind jagt in Böen über die Felder, treibt die letzten Frühnebelfetzen über das Land und versucht ihn aufzuhalten. Mit Regenschauern wird heute zu rechnen sein. In diesem Jahr hat das Wetter mitgespielt. Die Saat kommt gut, die Wiesen sind fett, und seit einigen Tagen zeigt sich überall
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