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Wenn das Herz im Kopf schlägt

Wenn das Herz im Kopf schlägt

Titel: Wenn das Herz im Kopf schlägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechtild Borrmann
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menschlicher Geschäftigkeit. Er liebt die morgendliche Ruhe auf diesem Grat zwischen verschlafenen Dörfern auf der einen, und dem behäbigen Fluss auf der anderen Seite.
    Als er sich vor vier Jahren aus Köln hierher versetzen ließ, war es gerade diese Weite gewesen, die ihn angezogen hatte. Er hatte auf dem Deich gestanden und mehrmals Brigittes und seinen Namen gerufen. Nur so. Nur um zu hören, dass seine Rufe ohne Echo verebbten.
    Brigitte war das unheimlich gewesen. Sie hatte gesagt: Hier ist man so verloren, Peter. Damals sah er sie verständnislos an. Inzwischen weiß er, was sie meinte. Nur, dass er es nicht »verloren« nennt. Er fühlt sich hier frei. Und immer, wenn er für ein paar Tage fort ist, sehnt er sich nach diesem grenzenlosen Himmel.
    Brigitte hatte sich gewehrt, aber in Köln wollte sie auch nicht bleiben, und schon gar nicht in dem Haus, in dem alles an Andreas erinnerte. Dann veröde ich eben am Niederrhein, hatte sie gesagt.
    Es war anders gekommen. Zuerst hatte sie Deutsch für Ausländer an der Volkshochschule unterrichtet, und inzwischen arbeitet sie in ihrem Beruf als Sozialpädagogin bei der Arbeiterwohlfahrt. Manchmal sehen sie sich zwei bis drei Tage nicht, schlafen nur nebeneinander.
    Sie führten heftige Auseinandersetzungen, und Brigitte warf ihm vor, sich all die Jahre entzogen zu haben. Sie kümmerte sich um ihren geistig behinderten Sohn, und er verdiente Geld. Er gestand ein, dass er die Arbeit gesucht hatte. Dass er die Behinderung seines Sohnes nicht ertragen konnte, oder besser: seine eigene Hilflosigkeit. Sie sagte, sie sei nicht mehr bereit, ein Leben mit dem Titel
Warten auf Peter
zu führen.
    Seither ist er sich ihrer nicht mehr so sicher, und das macht ihm Angst. Er liebt Brigitte und will mit ihr alt werden. Vielleicht ist es Phantasielosigkeit, aber ein Leben ohne sie scheint ihm undenkbar.
    Er stellt fest, das er schneller läuft. Weglaufen! Vor dem Gedanken, sie zu verlieren, weglaufen. Er biegt in den kleinen Feldweg ein und läuft die letzten fünfhundert Meter langsam aus. Plötzlich hört er sie. Seit Tagen kommen sie in großen Gruppen an. Hunderte von Wildgänsen ziehen über seinen Kopf. Er bleibt wie angewurzelt stehen. Ihre Rufe durchbrechen den Nebel, wecken die Felder und den Fluss. Zweihunderttausend hatte man im letzten Jahr geschätzt. Er hüpft auf der Stelle, um in Bewegung zu bleiben. »Guten Morgen«, ruft er ihnen zu, und für die Dauer einiger Herzschläge empfindet er Glück. Im Frühjahr, wenn sie kommen, und im Spätherbst, wenn sie wieder abziehen. Immer wenn er Zeuge ihrer Reisen wird, empfindet er diese Freude, der kein Lachen gerecht werden kann.
    Als er später nach dem Duschen in die Küche kommt, hat Brigitte bereits gefrühstückt.
    »Gerade ist wieder ein Schwarm Wildgänse angekommen!« Er nimmt Brigittes Gesicht in beide Hände und küsst sie auf die Stirn. »Sechstausend Kilometer haben sie hinter sich. Ohne Motor!« Er strahlt sie an.
    »Peter, könntest du heute was einkaufen? Ich bin den ganzen Tag in Düsseldorf.« Sie gießt ihm Kaffee ein und schaut auf die Uhr. Ihr dickes blondes Haar hat sie zusammengesteckt. Trotzdem fährt sie sich mit der rechten Hand hinter ihr rechtes Ohr, so als wolle sie eine lästige Strähne wegschieben.
    »Ich denke schon. Was brauchen wir denn?« Er greift zum Brot. »Aber was machst du denn in Düsseldorf?«
    Mit einem Zettel kommt sie zum Tisch zurück. »Hier ist eine Einkaufsliste.« Sie klimpert mit den Autoschlüsseln in ihrer Manteltasche. »Ich bin auf einer Tagung.« Sie beugt sich zu ihm hinunter und küsst ihn auf die Wange. »Bis dann!«
    Er hört die Tür ins Schloss fallen. »Samstags? Was ist das denn für eine Tagung?«, ruft er hinter ihr her, aber da ist sie schon draußen.
    Er nimmt die Tageszeitung vom Stuhl und beginnt zu lesen. Die Buchstaben fallen in seinen Kopf, ohne einen Sinn zu ergeben. Eine Tagung an einem Samstag? Der Verdacht frisst sich in sein Hirn wie ein Wurm in einen Apfel.
    Als das Telefon schellt, ist es bereits elf. Er steht an der Terrassentür und starrt in den Garten, ohne ihn zu sehen. Der Kaffee ist seit Stunden kalt. Auf dem Weg zum Telefon fällt es ihm wieder ein. Er hat die Rufbereitschaft für den Kollegen Steeg übernommen.
- 11 -
    Er fährt die schmale Asphaltstraße entlang. Der graue Himmel hängt tief. In der Ferne beugt er sich noch ein Stück tiefer und schluckt die Kronen der Pappeln am Horizont.
    Die Autos sieht er von Weitem: den alten

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