Wenn das Herz im Kopf schlägt
besteigt den Stuhl. Sie zieht das Seil nach, lässt aber genug Spiel, dass er ohne Schwierigkeiten stehen und atmen kann.
»Na also. Warum machst du es dir so schwer?«
Sie greift ihm ins Gesicht und zieht mit einem Ruck das Gaffaband von seinem Mund.
Er schnappt nach Luft, keucht.
»Du brauchst nicht zu schreien. Es hört dich keiner.«
Er reagiert nicht. Seine Unterlippe beginnt zu zittern.
Fasziniert betrachtet sie dieses Vibrieren im Gesicht des alten Mannes. Das hatte sie bei den andern beiden nicht gesehen. Das war jämmerlicher als dieses letzte heftige Pissen von Lüders, als sie ihr Messer an seinen Schwanz gelegt hatte.
»Ich kenne die Wahrheit, hörst du! Und jetzt will ich sie von dir hören.« Sie geht mit dem Seil um ihn herum, steigt auf die Anrichte und verknotet das lose Ende um den Balken.
Er schweigt.
Sie springt zurück auf den Boden, greift nach der Lehne des Stuhls und kippt ihn leicht nach hinten.
Er schreit auf.
Sie lässt den Stuhl zurückschnellen. »Rede, verdammt noch mal.«
»Wir waren betrunken. Ich habe ihr nichts getan. Ich war nur zufällig da.«
Seine Stimme hat diesen schrillen, hysterischen Oberton. Dieser Ton, der alles einen Bruchteil von Sekunden später noch mal zu wiederholen scheint, wie ein Kanon mit viel zu frühem Einsatz.
Sie hält sich die Ohren zu und schreit ihn an. »Ich will nicht deine gottverdammten Entschuldigungen, ich will die Wahrheit!« Ihre Hände zittern. Sie spürt, dass ihre Kraft nachlässt, die Wirkung des Amphetamins schwindet. Seit geraumer Zeit ist das so. Immer eher braucht sie Nachschub. Aber bald ist es vorbei. Bald wird sie es nicht mehr brauchen.
»Sie hat auf dem Boden gesessen. Johann hatte sie übel zugerichtet.«
Jansen starrt die Wanduhr über dem Sofa an. Halb zehn. Das Pendel ist ohne Bewegung. Die Stille, die unbeweglichen Zeiger der Uhr, die abgestandene, muffige Luft. Alles um ihn herum scheint zu warten. Wieder beginnt er zu schluchzen. Das Vibrieren seiner Beine hat den ganzen Körper erfasst. »Lena, ich habe ihr nichts getan, das musst du mir glauben. Ich habe dich doch immer gut behandelt, warum tust du mir das an?« Seine Lippen zittern die Worte unscharf.
Sie kann ihn kaum verstehen, hört nur, dass es nicht das ist, was sie hören will. Sie stellt sich vor ihn. »Hör mit diesem erbärmlichen Jammern auf.« Sie sieht ihm direkt ins Gesicht.
Seine verwaschenen, grauen Augen sind weit. Er sieht sie nicht an. Suchend wandern sie über die Wand, als könne er dort Rettung finden. Über der Zimmertüre stirbt Jesus an seinem Kreuz.
Dann beginnt er stockend: »Gietmann und Lüders sind auf sie zu, aber sie hat sofort angefangen, uns die Schuld an ihrem Zustand zu geben, und dass wir ...« Er schluckt, spricht jetzt ruhiger, wie aus weiter Ferne. »... verschwinden sollen. Lüders hat gesagt, dass sie ihn – wenn sie so wütend ist – ganz scharf macht und ist weiter auf sie zu. Sie ist aufgestanden und zurückgewichen.« Er zieht die Augen schmal, scheint die Bilder der Vergangenheit hinter dem Kruzifix hervorzuziehen. »Auf dem Boden lag ein Brett. Sie ist mit ihrem Pantoffel hängen geblieben und nach hinten gestürzt. Sie fing an zu schreien, hat mit den Beinen gestrampelt. Wir konnten ja nicht sehen, dass sie verletzt war, dass sie auf den Nagel gefallen war und ...!« Er schließt die Augen. Schüttelt den Kopf in der Schlinge, die er gar nicht wahrzunehmen scheint.
Sie knetet ihre immer stärker zitternden Finger, fährt sich mit den Fingernägeln über die Unterarme und hinterlässt rote Streifen. »Weiter. Das ist nicht die ganze Geschichte!« Zornig funkelt sie ihn an.
»Sie schrie und zappelte mit Armen und Beinen, stand aber nicht auf. Es sah grotesk aus. Gietmann hat ihr den Mund zugehalten. Sie sollte einfach aufhören zu schreien. Dann war sie plötzlich still.« Jansen schnappt nach Luft. »Lüders sagte: ›Na, wenn das keine Einladung ist.‹ Er hat ihr den Schlüpfer heruntergerissen und ...!« Er beginnt zu schluchzen.
Sie hält sich die Ohren zu. Schreit ihn an: »Und was?!«
»Er hat sie vergewaltigt. Erst Lüders, dann Gietmann! Ich habe gesagt: ›Lasst uns gehen. Wenn Johann zurück ...‹ « Er stockt, sieht wie sie verächtlich einen Mundwinkel hinunterzieht. »Lüders hat Gietmann angestachelt: ›Los, nimm sie von hinten.‹ Erst als Gietmann sie umdrehen wollte, haben wir das ganze Blut gesehen. ›Nichts wie weg‹, hat Lüders gerufen, und dann sind wir abgehauen.«
Sie steht
Weitere Kostenlose Bücher