Wenn das Herz im Kopf schlägt
...?
Die Polizisten haben die richtigen Fragen gestellt, viel schneller, als sie gedacht hatte.
Heute Mittag, als die Holter mit Mahler gesprochen hat, ist es ihr klar geworden. Sie musste ihren Plan ändern, wenn sie ihre Aufgabe zu Ende bringen wollte.
Sie hat zwei Pillen eingeworfen. Eine Stunde später war sie wach, hellwach und glasklar im Kopf. Sofort hat sie ihre Stärke gespürt. Ganz ruhig hat sie abgewartet.
Mit dem Ärmel ihrer weißen Bluse versucht sie, auf der verdreckten Scheibe des Küchenfensters eine kleine Fläche frei zu reiben. Es ist vergebliche Mühe. Der Schmutz, der sich über ein Jahr lang von außen an den Fenstern festgesetzt hat, versperrt ihr die Sicht. Vorsichtig dreht sie den Knauf des alten Holzfensters und öffnet es mit einem kräftigen Ruck. Die frische, vom Regen gereinigte Luft fällt ins Zimmer. Gierig atmet sie ein.
Von hier aus kann sie die Straße und einen Teil des Vorgartens überblicken. Von hier aus sieht sie auch die Stelle, an der Gietmanns Blut auf den Feldweg gelaufen ist.
Bis jetzt ist alles perfekt gelaufen.
Jansen hat im Saal unerwartet neben ihr gestanden und besorgt gefragt, ob es ihr nicht gut ginge. Sie hat sofort reagiert! Sie waren zusammen zur Friedhofsgärtnerei gelaufen. Er hat im Haus seine Autoschüssel geholt, und sie hat einen der Holzpflöcke vom Materialhof neben die Garage gestellt. Sie hat ihm geholfen, das schwere Eisentor hochzuschieben. Als er dann die Autotüre aufschließen wollte, hat sie zugeschlagen und ihn in den Kofferraum gehievt. Er war deutlich leichter als Gietmann und Lüders. Sie ist hierher gefahren, hat ihn ins Haus gebracht, sorgfältig verschnürt und im Wohnzimmer liegen lassen. Dann hat sie das Auto zurück in die Garage gefahren, das Eisentor wieder heruntergelassen und ist mit dem Fahrrad hierher zurückgekommen.
Sie schaut zufrieden die Straße hinunter. Kein Mensch ist ihr begegnet, alle sind auf dieser Beerdigung.
Nur der Mann mit dem Golf, der Dienstagnacht an der Tankstelle die Zeitung gekauft hatte, ist ihr entgegengekommen. Ein Polizist, da ist sie sich jetzt sicher. Der Gedanke lässt sie lächeln. Es ist wie ein Spiel. Sie sehen mich, sie kennen mich und wissen doch nicht, wer ich bin!
Sorgfältig schließt sie das Fenster, geht durch den Flur zur Hintertür des Hauses und dreht den alten, langen Schlüssel im Schloss. Er lässt sich nur schwer bewegen. Ein Geräusch wie Zähneknirschen entsteht und hallt in ihrem Kopf wieder. Die Tür quietscht in den Angeln. Sie geht hinaus auf die erste Stufe, bückt sich und zieht das Seil hinter der Regentonne hervor.
Auch für Jansen ist alles vorbereitet.
Er soll hängen, so wie ihr Großvater.
Wenn es Mama schlecht ging, hat sie es immer wieder erzählt. Unsere Geschichte vom Behrenshof, hat sie es genannt. Keine schöne Geschichte, meine Kleine, aber du darfst sie niemals vergessen! Du bist wie sie, hat sie dann zum Abschluss gesagt. Darum heißt du auch wie sie, meine kleine Magdalena. Dann waren sie sich ganz nah.
Damals hat die Geschichte ihr Angst gemacht. Erst später, als Mama die Briefe und das Foto von den Männern gefunden hat, war zum ersten Mal dieser Verdacht in ihr lebendig geworden. Lange war es nur eine Idee, eine Phantasie in ihrem Kopf. Aber dann hat Mama sie fortgeschickt. Zum Studieren, hat sie gesagt, aber sie, Lena, hat es besser gewusst. Als sie dann ausgerechnet in Nimwegen, nur acht Kilometer von hier, einen Studienplatz bekam, hat sie ihren Auftrag verstanden.
Sie geht ins Wohnzimmer. Jansen liegt auf dem Fußboden. Er starrt sie mit riesigen Augen an. Fasziniert betrachtet sie seine großen Pupillen. Sie setzt sich auf den Rand des klammen Sofas und knotet mit einem Ende des Strickes eine Schlaufe. »Ihr seid alle gleich, weißt du das?«
Sein Blick verändert sich, sie erkennt seine Hoffnung. Sie erkennt seinen Gedanken. Wenn sie mit mir spricht, ist noch Hoffnung! Bei den anderen war es genauso gewesen.
»Doch! Ihr seid wirklich alle gleich!« Sie lacht auf. »Willst du mit mir reden? Willst du mir alles erklären?«
Er nickt heftig.
»Soll ich dir das Band vom Mund nehmen?«
Wieder nickt er.
»Später!« Sie stellt einen Stuhl auf den mit braunschimmernden Fliesen belegten Couchtisch und klettert hinauf. Auf den dicken Fachwerkbalken liegt die Zimmerdecke aus weiß gestrichenen Brettern. Sie drückt das Brett über ihrem Kopf hoch. Schon vor einer Woche hat sie es gelöst. Sie schiebt das eine Ende des Seils über den Balken
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