Wenn dein dunkles Herz mich ruft (German Edition)
letzten Reste des Alptraums abzuschütteln, der an ihr haftete wie eine frische Erinnerung. Das beklemmende Gefühl der Angst vor einer unbekannten Bedrohung aber blieb. Langsam öffnete sie die Augen und schaute sich im zwielichtigen Zimmer um. Ihre Tür stand offen und ein Strahl Sonnenlicht fiel vom Deck her auf die Schwelle. Staubkörnchen tanzten in der Luft.
Wie war sie hierhergekommen?
Die Frage rückte erst einmal in den Hintergrund, als sie Tyler sah, der an der Wand lehnte und ein kleines Buch in der Hand hielt. Das Buch. „Was machst du da?“, fragte sie und setzte sich in der Hängematte auf, die Muskeln angespannt. Sie wusste noch nicht, ob sie dem Mann vertrauen sollte oder nicht. Besser nicht.
Er sah kurz auf und seine goldenen Augen trafen auf ihre, hakten sich fest. „Lesen“, gab er zurück und richtete den Blick wieder auf das kleine, alte Buch. Kimberly hatte immer noch nicht nachgesehen, was darin stand, aber wahrscheinlich würde sie es ohnehin nicht lesen können. Gavin war derjenige gewesen, der gelernt hatte, wie man aus Buchstaben Wörtern machte, nicht sie. Ein dumpfer Schmerz flammte in ihr auf, als sie an Gavin dachte, aber sie kämpfte ihn nieder, bevor sich Tränen bilden konnten. Sie würde bestimmt nicht vor dem Fremden weinen.
Tyler runzelte die Stirn, blätterte einige Seiten vor und wieder zurück. „ Lapis nisi deleatur, genus peribit humanum“, murmelte er. „Weißt du, was das heißt?“
Kimberly schüttelte den Kopf. „Ist das Latein?“
„Scheint so. Es ist aber schon lange her, dass ich es das letzte Mal gelesen habe.“ Ein Schatten huschte über seine Augen. „Verdammt lange her.“
„Wo hast du lesen gelernt?“
„Und warum fragst du so viel?“ Er schlug das Buch zu und warf es in ihre Richtung. Mit einem leisen Plock landete es neben ihrer Hängematte in einem Haufen geklauter Kleidung. „Hier, du kannst dir ja die Bilder ansehen.“ Er trat einen Schritt vor, verharrte aber, als sei er sich nicht sicher, ob die Flucht es wert war, dafür an ihr vorbei zu müssen. Kimberly rutschte von der Hängematte und trat ihm mit verschränkten Armen gegenüber, Smaragd suchte Gold.
„Was macht ein lesender Brite auf Puerto Rico?“
Sein Blick wurde hart. „Überleben.“
„Und was machst du hier ? Auf diesem Schiff.“
„Entkommen.“
Kimberly öffnete den Mund, ein weiterer Schwall Fragen wollte von ihren Lippen schlüpfen, aber Tyler schüttelte heftig den Kopf und starrte sie finster an. Wie bedrohlich das Gold auf einmal aussehen konnte. „Es reicht.“ Mit harten, schnellen Bewegungen schob er sich an ihr vorbei, ihre nackten Arme berührten sich und schickten kalte Stromstöße durch Kimberlys Körper. Sie zuckte zurück und für einen weiteren Moment trafen sich ihre Blicke, ihre eigene Überraschung spiegelte sich in seinen Augen wider. Der Moment dauerte nur einen Herzschlag lang an, dann floh Tyler aus der Kajüte, fort von ihr und zu den Männern, die ihn mitgenommen hatten. Warum, wusste Kimberly nicht und sie war sich nicht sicher, ob ihr seine Anwesenheit gefiel.
Vielleicht sind sie alle tot. Vielleicht hat er den Captain und die Crew umgebracht. Vielleicht war ja auch sie tot? Verärgert schüttelte sie die Gedanken ab und nahm stattdessen das Buch in die Hand. Sie würde nicht wie ein kleines Mädchen an Deck laufen und nachsehen, ob es ihrem Onkel gutging. Bestimmt nicht.
Behutsam blätterte sie durch das kleine Buch, das sie alle zu retten vermocht hätte, würde jemand seine Botschaft verstehen. Sie fand die Stelle, aus der Tyler vorgelesen hatte, sehr schnell. Die Worte erkannte sie nicht, natürlich nicht, sie konnte ja nicht lesen. Aber es waren die einzigen Seiten mit mehreren Zeichnungen auf einmal. Links war ein fein gezeichnetes Bild von einem Kristall, der von mehreren Männern umrundet war. Sie hatten Waffen in den Händen, aber sie krümmten sich und konnten den Kristall nicht erreichen. Es war, als verletzte er sie durch seine Anwesenheit und brachte sie dazu, ihre Waffen fallen zu lassen. Kimberly sah genauer hin. Nein, das stimmte nicht. Sie ließen ihre Waffen nicht fallen, sie richteten sie gegen sich selbst.
Sie zuckte zurück. Die Marionetten-Männer , dachte sie.
Über dem Stein war noch etwas zu erkennen, eine Klinge, deren Spitze über dem Kristall schwebte. In den schwarzen Griff war ein Muster eingraviert, aber das Bild war zu klein, um es zu erkennen. Nur ein runder Umriss ließ sich erahnen.
Daneben auf
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