Wenn der Acker brennt
niemand sonst in der Nähe war, rannte ich zu den Strohballen unter dem Fenster und sah in die Scheune.
Die Frau in der gelben Jacke saß auf dem Boden. Der Rucksack stand geöffnet neben ihr. So viel Geld habe ich noch nie auf einem Haufen gesehen. Dann fiel mir ein, was ich am Morgen im Radio gehört hatte, und mein Herz pochte wie wild. In der Nähe von München hatte jemand einen Geldtransport überfallen. Zwei Täter waren gefasst worden, der dritte war entkommen. Ich versuchte die Frau zu erkennen, aber sie hatte die Mütze zu tief ins Gesicht gezogen.
Jeremias konnte ich zuerst gar nicht entdecken. Dann sprang die Frau plötzlich auf, fasste in den Rucksack und zog ein Messer heraus. Es hatte eine giftgrüne Schlange am Griff. Kurz danach sah ich Jeremias auf sie zugehen und auf sie einreden. Ich konnte nicht verstehen, um was es ging, aber dann fiel ein Schuss. Zuerst war ich wie gelähmt. Ich dachte, die Frau hätte zusätzlich zum Messer auch noch eine Pistole und Jeremias sei jetzt tot, weil er zusammen mit der Frau auf den Boden fiel. Doch gerade, als ich von den Strohballen springen wollte, um Hilfe zu holen, stand Jeremias wieder auf. Die Frau aber blieb liegen.
Das Messer der Frau steckte in Jeremias’ Oberarm. Er zog es mit einem kräftigen Ruck heraus und warf es in den Rucksack. Danach nahm er ein großes Taschentuch aus seiner Hosentasche und band es fest um die Wunde. Ich glaubte, er würde gleich aus der Scheune kommen, um nach Hilfe zu rufen, aber nichts dergleichen passierte. Stattdessen stapelte er die Strohballen dort um, bis eine in den Boden eingelassene Tür zum Vorschein kam. Er zog sie auf, packte den Rucksack mit dem Geld und verschwand in der Luke.
Ich lief um die Scheune herum bis zum Tor. Die Frau lag gleich daneben. Ihre Kappe war ihr von den Haaren gerutscht. Es war Judith Bischoff, die für Herrn Denninger gearbeitet hat. Sie hatte eine Einschusswunde am Hals. An ihrer linken Hand trug sie einen auffälligen Ring mit einem grünen Stein in einer silbernen schlangenförmigen Fassung.
Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte, als ich sie da so liegen sah. Die Polizei rufen? Jeremias verraten? Sicher war es Notwehr gewesen, und er würde gleich selbst die Polizei benachrichtigen. Aber warum hatte er das Geld weggeschleppt? Als ich hörte, dass er die Leiter wieder hochstieg, bin ich weggelaufen. Soll er doch zusehen, wie er mit all dem fertig wird. Ich bin mir nicht sicher, ob er mich noch gesehen hat, aber das ist mir scheißegal.
23. August 1982
Wieso hat Jeremias das getan? Steckt er mir vorhin doch diesen Ring von Judith an den Finger und behauptet, wir seien verlobt. Den Ring einer Toten! Und das vor all unseren Freunden! Ich bekomme ihn nicht mehr ab.
Ich hocke in diesem Keller, und über mir brennt die Scheune. Ich will raus! Rick, wo bleibst du? Ich will noch nicht sterben! Warum musste das alles passieren? Aber wenn ich hier rauskomme, werde ich allen sagen, was ich beobachtet habe. Jeremias muss bestraft werden.
Rick kommt nicht. Ich kann nicht mehr schreiben. Ich bekomme kaum noch Luft. Ich werde meine kleine Schwester nie wiedersehen. Ich hätte Christine immer die Wahrheit gesagt, hätte nie gelogen, so wie Mama mich angelogen hat. Sie hat mir nie gesagt, wer mein Vater ist. Jeremias hat vor ein paar Tagen behauptet, es sei Leonhard Linden. Wenn es wahr ist, dann wäre Rick mein Bruder. Wenn ich das hier überstehe, dann werde ich sie fragen, ich will es endlich wissen. Ich will doch noch leben! Ich will Journalistin werden und allen die Wahrheit entgegenschleudern. Ich habe solche Angst!
Ich weiß, dass es Jeremias war, der den Rucksack mit dem Geld gerade aus dem Keller geholt hat. Ich habe die Wunde an seinem Handgelenk gesehen, da, wo ich ihn im Feld gebissen habe. Was wohl mit Judith Bischoff passiert ist? Wo hat Jeremias sie hingeschleppt? Ich habe sie oben in der Scheune nicht mehr gesehen. Hat er sie irgendwo unter den Strohballen versteckt? Oder war sie vielleicht gar nicht tot?
Ich hätte Rick einweihen sollen, dann wüsste es noch jemand. Aber er ist noch so klein. Er versteht das alles noch nicht.
»Lies weiter«, forderte Christine Rick auf, als er schwieg.
»Das war alles.«
»Das Fach ist leer?«
»Ja, leider.«
»Wir müssen mit diesen Aufzeichnungen zur Polizei.« Die Seiten waren das wahre Vermächtnis ihrer älteren Halbschwester. Sie hatte gewollt, dass derjenige, der sie nach ihrem Tod fand, für Gerechtigkeit sorgte, und
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