Wenn der Hunger erwacht (German Edition)
du nämlich keine Chance gehabt.“
Ian musterte sie kurz und entdeckte eine innere Stärke, stählern und widerspenstig, die er nicht an ihr vermutet hätte. Obwohl alle Anzeichen dafür sprachen, schließlich hatte sie ihm seit ihrer ersten Begegnung kein einziges Mal nachgegeben. Außerdem war sie immer noch da – Beweis genug, dass er ihr nicht genug Angst einjagen konnte, um die Stadt zu verlassen. Er schüttelte den Kopf und setzte ein ironisches Lächeln auf. „Tja, irgendwie hab ich das Gefühl, das könnte sogar stimmen. Da bin ich lieber ein braver Junge und tue, was man mir sagt.“
Es war ihm nicht möglich, das Hemd über den Kopf zu ziehen, die Bewegung verursachte solchen Schmerz, dass er zusammenzuckte. „Warte“, sagte sie. „Lass mich dir helfen.“
Als er das nasse Hemd endlich los war, war ihr Gesicht sorgenvoll und ihr Blick ganz von den langgezogenen Kratzern gefangen, die die Klauen des Casus auf seiner Brust hinterlassen hatten. „Großer Gott, dich hat’s aber wirklich erwischt.“
Ian schnaubte, wollte jetzt endlich unter die Dusche, um die Muskelverkrampfungen zu lösen, von denen er allerdings annahm, dass sie eher von dem Kampf mit dem Biest in seinem Inneren kamen als von dem Kampf gegen den Casus. „Pures Glück, dass er mir nicht den Kopf abgerissen hat.“
„So schlimm?“
„Schon“, murmelte er, die Erschöpfung überwältigte ihn wieder, schwer wie ein Joch auf seinen Schultern. „Und er ist immer noch irgendwo da draußen. Ich muss dir wohl nicht erst sagen, dass du dich von der Tür oder den Fenstern fernhalten sollst, solange ich nicht da bin.“
„Das weiß ich. Wenn ich irgendwas höre, klopfe ich an die Badezimmertür.“ Sie zeigte auf die kleine Kochnische hinter einem schmalen Durchgang. „Ich habe immer einen Erste-Hilfe-Kasten dabei, wenn ich unterwegs bin. Ich bereite alles vor, während du unter der Dusche bist.“
„Danke.“ Sie wollte gehen, aber Ian hielt sie am Handgelenk fest, und bevor er sich zurückhalten konnte, hörte er sich sagen: „Welcher hat dir besser gefallen?“
„Wie meinst du das? Welcher was hat mir besser gefallen?“
„Von den beiden Träumen“, wollte er mit tiefer, rauer Stimme wissen. „Welcher war besser?“
Molly holte lautlos Luft, und sein Blick wanderte zu ihrem Halsansatz, wo ihr Puls chaotisch schlug. „Was ist das denn für eine Frage?“, flüsterte sie.
„Beantwortest du eine Frage immer mit einer Gegenfrage?“ Er hob eine tiefschwarze Braue.
Sie riss ihren Blick von seinem los und starrte irgendeinen Punkt auf den blassgrünen Wänden an. „Die waren beide nicht besonders nett.“
„Autsch.“ Ian rieb sich die Brust, als wäre er getroffen worden. „Heute Nacht muss mein Ego aber was durchmachen.“
Frustriert sah sie ihm wieder in die Augen. „Du weißt genau, dass ich das nicht so meine. Es hat überhaupt nichts mit dir zu tun. Oder mit dem, was zwischen uns passiert ist. Mir haben beide Träume nur viel zu viel Angst gemacht, um …“
„Blödsinn“, fauchte er plötzlich mit zusammengekniffenen Augen, und zum ersten Mal sah sie diese finstere Bitterkeit in ihm aufsteigen, die wohl einfach zu ihm gehörte. „Der zweite vielleicht, okay, als wir plötzlich in dem Wald waren. Aber am Anfang, als du in diesem Raum unter mir gelegen hast, da hattest du keine Angst. Und im ersten Traum hattest du auch keine Angst.“
„Woher willst du das wissen?“ Ihr Gesicht glühte, als hätte sie einen Sonnenbrand.
Molly hatte keine Antwort erwartet, aber dann stieß er zwei schlichte Worte hervor. „Das Lächeln.“ Er ließ ihr Handgelenk los. „Du hast mich angelächelt. Beide Male.“ Etwas Komisches lag in seiner Stimme – etwas, das verdächtig klang wie … sie konnte es nicht in Worte fassen. Es war nicht Peinlichkeit. Sie bezweifelte, dass einem Mann wie Ian Buchanan jemals etwas peinlich wäre. Nein, es war eher sogar noch verletzlicher … beinahe zerbrechlich.
Sie beobachtete, wie er das abschüttelte und seine anmaßende Arroganz wieder zum Vorschein kam. Sein Mund verzog sich zu einem jungenhaften Grinsen, ein teuflisches Grübchen tauchte in seiner Wange auf und ließ ihn noch jünger wirken. „Eine Frage zumindest hat der zweite Traum beantwortet.“
In ihrer Stimme lag sanftes Zittern. „Ich wage kaum zu fragen.“
Er kniff sie spielerisch in die Nase, eine merkwürdige Geste, die so gar nicht zu seiner Begierde passte, die immer noch in seinen blauen Augen zu erkennen
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