Wenn der Keks redet, haben die Krümel Pause
ein System der freien Marktwirtschaft, die Angebotsseite müsste einiges ändern, damit die Nachfrage nicht in den Keller geht. Als Erstes würde ein Unternehmensberater wohl empfehlen, Korrekturen von Klassenarbeiten oder Tests zügig zu Ende zu bringen.
Aber so mancher Lehrer reizte die Schülergeduld lieber bis aufs äußerste. In der DDR wartete man von der Bestellung eines Trabis bis zu dessen Lieferung nicht so lange wie wir auf unsere Klausuren. Und nachzufragen half überhaupt nicht. Als wir in der fünften Klasse waren, bekamen wir immer die Antwort: «Die Klausuren der Schüler der Stufe dreizehn müssen zuerst korrigiert werden, weil die kurz vor dem Abitur stehen.» In der Stufe dreizehn erklärte man uns dann, dass die Klassenarbeiten der Fünftklässler vorgingen, weil die doch noch so klein wären und nicht so lange warten könnten. Irgendwann haben wir da wohl etwas verpasst.
Bekam man die Arbeiten nach gefühlten Jahren zurück, war man nicht selten erstaunt über die Beurteilungskriterien und das Ergebnis selber. Denn ab einem bestimmten Zeitpunkt gab es die sogenannten Erwartungshorizonte. Darin war vermerkt, was der Schüler – im Erwartungshorizont «Prüfling» genannt – alles hätte schreiben müssen. Für jedes Kriterium gab es eine bestimmte Anzahl von Leistungspunkten. Das sollte objektiv und neutral wirken. Der Effekt: Früher las ein Deutschlehrer eine Arbeit und bestimmte die Note nach Gefühl und Sympathie. Heute liest der gleiche Deutschlehrer eine Arbeit, bestimmt eine Note nach Gefühl und Sympathie und schaut dann, wie er das im Erwartungshorizont unterbringen kann.
Das ist nicht nur eine Vermutung meinerseits – das habe ich genau so von einer Lehrerin und von unabhängigen Quellen beglaubigt gehört. Sie sagte damals: «Früher habe ich die Noten immer geschätzt. Das hatte man so im Gefühl, was zum Beispiel eine 2 ist. Heute arbeite ich die Kriterien des Erwartungshorizonts durch und streiche mal hier und mal da ein paar Leistungspunkte weg. Meistens kommt dann da, wo ich nach dem Lesen gefühlt eine 2 gegeben hätte, dann auch eine 2 – oder 3 + heraus.» Es ist doch schön zu wissen, dass es objektive Bewertungskriterien gibt.
Und die gab es in jedem Fach. Auch in Fächern, bei denen man bisher dachte, es existiere nur richtig und falsch. Im Erwartungshorizont für Mathe standen dann Sachen wie: «Der Prüfling löst die Aufgabe korrekt unter Berücksichtigung der im Unterricht erlernten Grundregeln der Mathematik.» Ja, was bitte schön soll man in einer Mathearbeit sonst machen? Die Buchstaben der Aufgabenstellungen in verschiedenen Farben anmalen oder was?! (Okay, das hätte mal Spaß gemacht.) Ohne den Erwartungshorizont wären unsere Lehrer bei der Korrektur ja nie draufgekommen, dass wir die Aufgaben richtig rechnen sollen!
Eine weitere Schwachstelle: Wenn man in einer Klassenarbeit, etwa in Deutsch, besonders viel geschrieben hat, worauf der, der den Erwartungshorizont erstellt hatte, aber gar nicht gekommen war, oder man einen anderen, aber gut begründeten Interpretationsschwerpunkt ausgemacht hat als dieser, dann bekommt man dafür keine Punkte.
«Halt!», wird da der ein oder andere Lehrer vielleicht sagen. «Dafür gibt es doch die Punkte für ‹weitere aufgabenbezogene Kriterien›.» Ja, herzlichen Glückwunsch! Davon gibt es genau vier Stück. Selbst wenn man die alle von einem gnädigen Lehrer für eine geniale, aber von der Vorgabe abweichende Lösung bekommt, so wiegt das nicht die acht Punkte auf, die man bei der vermeintlich «richtigen» Interpretation verloren hat. Wobei das Wort Interpretation doch eigentlich schon zeigen sollte, dass es keine eindeutige Lösung geben kann. Wenn es die gäbe, müsste man schließlich nicht mehr interpretieren! Die Reklamation ist aber meist sinnlos. Der durchschnittliche Lehrer antwortet dann gerne: «Da kann ich nichts dafür, das steht so im Erwartungshorizont.»
«Wer hat den Erwartungshorizont denn erstellt? Das Ministerium?», habe ich mal nachgefragt.
Die Antwort des Lehrers war so einfach wie verblüffend: «Nein, den hab ich selbst erstellt.»
Der Lehrer kann also nichts für den von ihm selbst erstellten Erwartungshorizont. Und nur, weil dem Lehrer beispielsweise das unheimlich wichtige Stilmittel in der dritten Strophe eines zu analysierenden Gedichts nicht aufgefallen ist, sondern er den Schwerpunkt seiner Beurteilung auf das Reimschema der ersten Strophe gelegt hat, bekommt man dann eine
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