Wenn der Tod mit süßen Armen dich umfängt
kaum einen Meter hoch und bis zu zwei Drittel mit Wasser gefüllt war.
Es war unmöglich vorauszusagen, wie tief sie hinabstürzen würden oder ob es auf der anderen Seite der Passage genügend Luft zum Atmen gab. Denn der Wasserpegel könnte sich verändert haben, seit Itzels Leute hier durchgekommen waren. Zu viele Unwägbarkeiten, zu wenig Antworten, und die Zeit wurde auch langsam knapp.
Sie kroch zu Carver zurück. »Hört sich nach einem Wasserfall an, aber ich bin mir nicht sicher, wie tief er ist. Oder wie tief das Wasser am unteren Ende ist – wir könnten eventuell auf Felsen stoßen. Und ich konnte auch nicht erkennen, ob es in dem Durchgang genügend Platz zum Atmen gibt.«
Er schluckte schwer, dann setzte er ein breites Grinsen auf. »Warum gehe ich nicht einfach vor? Es gibt keinen Grund, dass du hier den ganzen Spaß für dich allein haben solltest.«
Ehe sie ihn daran hindern konnte, wälzte er sich vom Fels ins Wasser und wurde von der Strömung ins Dunkel gezerrt.
32
Auf ein Zeichen von Dr. Carrera hin ergriffen seine beiden Begleiter Kevin, der Mann mit der Narbe packte währenddessen Maria am Arm und stieß ihr den Gewehrlauf in den Rücken.
»Hört auf damit!«, rief Michael aus. »Das könnt ihr nicht machen. Ich werde das nicht zulassen.«
»Also wirklich, Michael«, sagte Dr. Carrera in einem Tonfall, als würde er ein Kleinkind schelten, »du musst auf mich hören. Ich weiß, was ich tue. Pablo, bring Maria nach oben. Sie kann auf der Isolierstation warten, bis wir so weit sind.«
Der Mann mit der Narbe drängte Maria die Treppe hinauf. Sie nahm widerwillig zwei Stufen, dann schaute sie über die Schulter zurück.
»Dr. Cho, lassen Sie uns in den OP zurückkehren. Ich würde gerne eine letzte Übung mit Ihnen durchführen, ehe wir beginnen. Wir können uns keine Fehler leisten.«
Kevin richtete sich auf und funkelte Dr. Carrera wütend an. »Ich mache keine Fehler. Aber Sie haben einen gemacht. Das wird niemals funktionieren – und Sie sind nicht fähig, eine ordentliche Organentnahme durchzuführen.«
»Lassen Sie das nur meine Sorge sein«, herrschte ihn Dr. Carrera an.
»Lass sie gehen«, sagte Michael. Er hob sein Hemd und griff nach den dicken Röhren, die aus seinem Bauch kamen. »Lass sie sofort gehen, oder ich ziehe das LVAD raus!«
Der Doktor legte den Kopf zur Seite und schüttelte ihn tadelnd. »Na, na, Michael. Du willst doch sicher nicht, dass deiner Schwester etwas passiert.«
Maria konnte den Schmerzensschrei nicht unterdrücken, als Pablo sie am Haar nach hinten zog und ihr die Waffe in die Rippen rammte. Er zog so sehr an ihrem Haar, dass sie sich krümmen und winden musste, damit der Schmerz halbwegs erträglich wurde.
»Nein, aufhören!«, rief Michael. »Tut ihr nicht weh.«
»Schon besser«, sagte Dr. Carrera. Die Wachen zerrten Kevin die Stufen hinunter bis ins Erdgeschoss und zu den Operationsräumen, während Pablo Maria nach oben schob. Sie reckte den Hals und suchte Kevins Blick. Keiner von ihnen sagte ein Wort – was gäbe es auch zu sagen?
Als sie um den Treppenabsatz bogen, sah sie, wie Helda und Dr. Carrera Michael durch die Tür in den Hauptflur geleiteten. Er wirkte vollkommen verängstigt und rief ihr noch ein »Es tut mir leid, Maria!« zu.
Dann war er aus ihrem Blickfeld verschwunden. Hatte Dr. Carrera wirklich gesagt, sie sei Michaels Schwester? Wie war das möglich?
Das Rätsel lenkte sie ein wenig von dem Anblick ab, der sie im zweiten Stock erwartete, als Pablo eine massive Metalltür aufschloss und sie hindurchschob. Der Flur war mit weiteren Türen wie dieser gesäumt, keine Krankenhaustüren, sondern Gefängnistüren mit kleinem Sichtfenster und einem Schlitz in der Mitte. Hinter den Fenstern erkannte sie Frauen in allen Altersstufen, die meisten von ihnen Maya. In ihren weit aufgerissenen Augen stand nackte Angst oder auch Wahnsinn; Maria war sich da nicht sicher.
Bei Marias Ankunft erhob sich ein wildes Geheul und Gekreische, als ob die Frauen sie in der ihnen eigenen Sprache willkommen hießen. Pablo zog sie rasch an ihnen vorbei, dennoch erhaschte sie den einen oder anderen Blick auf fehlende Gliedmaßen oder Augenverbände, eine Frau lag bäuchlings auf einer Pritsche, und der entblößte Rücken zeigte rotes Narbengewebe, dort, wo ihr die Haut abgezogen worden war.
Mit Kevin an ihrer Seite war es Maria gelungen, die eigene Panik zu unterdrücken, doch beim Anblick dieser Frauen, verstümmelt, verrückt – oder durch die
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