Wenn Die Nacht Anbricht
seine Arme genauso anfühlen würden. Doch er schnarchte schon, ehe ich es schaffte, überhaupt in die Nähe der Arme zu kommen. Die Schultern waren härter und kräftiger geworden als damals, als ich ihn kennenlernte. Er hätte gegen eine Steinmauer laufen können, und die Mauer hätte eher nachgegeben als er.
Ich massierte weiter, obwohl er inzwischen tief schlief. Er würde die Verbesserung merken, wenn er aufwachte.
Virgie
Es war wunderbar, Jack wieder zu Hause zu haben – mein mir so vertrauter Bruder, der allerdings stiller war als zuvor. Mit den Gipsverbänden an Arm und Bein konnte er lange nicht so gut gegen Wände oder Möbel rennen, wie er das sonst tat. Ich war mir allerdings sicher, dass er schon bald herausfinden würde, wie er seine Spuren auch mit einer Krücke hinterlassen konnte, und dass Tess besser aufhörte, sich über ihn lustig zu machen und schnell lernte, wieder rechtzeitig in Deckung zu gehen.
Mama redete nicht gern über Jacks Unfall. Nur wenn man sie darauf ansprach, sagte sie etwas zu dem Thema – sie war niemand, der vor viel zurückschreckte –, aber ich merkte, dass sie lieber von ihren Aufgaben oder unseren Schularbeiten redete oder darüber, was mit den Verwandten los war. Sie erwähnte nie diesen Lastwagenfahrer oder was aus ihm geworden war oder wie viel Glück Jack gehabt hatte oder wie beängstigend es gewesen war, als wir ihn das erste Mal im Krankenhaus gesehen hatten. Jacks Unfall war ein unvorhersehbares, aufwühlendes Ereignis gewesen, und Mama mochte es ordentlich und geregelt.
Ich hatte immer gedacht, dass ich in dieser Hinsicht genauso war wie sie, und das stimmte wohl im Großen und Ganzen auch. Nie würde ich wie Tess sein und meine Schuhe durch die Gegend werfen, so dass einer unter dem Bett und der andere am Nachttisch lag. Ich mochte es, wenn sie beide in die gleiche Richtung zeigten und sich an Spitzen und Fersen berührten. Doch ein kleiner Teil von mir wollte sehen, was passieren würde, wenn ich die Schuhe an unterschiedliche Stellen des Zimmers legen und in verschiedene Richtungen schauen lassen würde.
Ich hatte mich umgezogen und mir ein Kopftuch um die Haare gebunden, noch ehe Mama den Öllack aufgeteilt hatte. Also begann ich die Malerpinsel zu sortieren, die neben ihr ausgebreitet waren.
»Du erinnerst dich doch an Robin im Krankenhaus, oder, Mama?«, fragte ich, während sie zwei Eimer vollgoss – für jeden von uns einen.
»An diese süße kleine Krankenschwester?«
»Ja, Ma’am. Sie war nett … Und wirklich gut darin, sich um andere Menschen zu kümmern.«
»Da bin ich mir sicher.«
»Hast du dir jemals gewünscht, nicht geheiratet zu haben, Mama? Und stattdessen dein eigenes Geld zu verdienen? Irgendwo weit weggegangen zu sein?«
»Warum fragst du mich etwas, wovon ich nicht die leiseste Ahnung hab?« Sie stellte den Farbeimer ab und reichte mir einen der kleineren Behälter. Nicht ein Tropfen Farbe war danebengegangen.
»Hast du nie dran gedacht?«
»Gütiger Himmel – nein. Wer hat schon Zeit zum Nachdenken? Los, wir müssen die Böden streichen.«
Wir hätten die Böden bereits früher gestrichen, wenn nicht der Unfall dazwischengekommen wäre. Jetzt war es so kalt geworden, dass ich mein Kleid unter meine Knie klemmen musste, um sie zu wärmen, während ich den eisigen Boden mit Farbe bemalte. Mama übernahm die Küche, und ich blieb im Wohnzimmer. Ich hatte mein ältestes Kleid angezogen – cremefarbene Baumwolle mit einem schmalen Gürtel –, dessen Saum ausgefranst war und das einen dunklen Flecken auf einem Ärmel hatte, der sich nicht mehr entfernen ließ. Mir war nie klar, wo dieser Fleck herkam. Ich benutzte das Kleid nur noch für Arbeiten im Haus, und es war praktisch, wenn man auf dem Boden herumrutschen und mit einem Pinsel voller Ölfarbe auf und ab streichen musste.
In jedem Herbst sahen die Bodenplanken staubig und stumpf aus, deshalb wollte sie Mama mit einem neuen Anstrich wieder zum Glänzen bringen. Es war eine schweißtreibende Angelegenheit, und selbst mit Papas alten Arbeitshandschuhen für jede von uns – er benutzte nie Handschuhe, darum wunderte ich mich, dass er alte hatte –, tropfte ich trotzdem Farbe auf meine Arme, so dass meine Härchen wie in Schellack getaucht aussahen. Manchmal kroch ich auch etwas zu weit und kam mit dem Knie in frische Farbe, wodurch Staub und Schmutz an meinem Bein kleben blieben. Einige Haarsträhnen rutschten unter dem Kopftuch heraus, und auch sie wurden
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