Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
auch die Nacht mit nur wenigen kurzen Pausen– was ihr einerseits so leichtfiel, dass es sie geradezu erschreckte, denn selbst die schlimmste Erschöpfung konnte doch nicht so schwer wiegen, dass sie so viel Schlaf nötig hatte. Auf der anderen Seite war es ihr ein sehr willkommenes Mittel, um Seths Fragen zu entgehen. Der Kater war unruhig, weil er sie schon kurz nach Beginn ihrer Traumreise aus den Augen verloren hatte. Und das zu Recht, aber natürlich konnte Nele ihm jetzt nichts darüber sagen. Nicht, ehe sie selbst wusste, was sie nun tun sollte. Also gab sie sich der überwältigenden Müdigkeit hin und schlief, schlief und schlief und hoffte jedes Mal, wenn sie kurz aufwachte, Seth möge ihrer Aufforderung gefolgt sein, noch vor dem Morgen ihr Zimmer zu verlassen. Er war doch sonst so schnell damit, sich aus dem Staub zu machen.
Doch erst als sie zum letzten Mal aufwachte– dieses Mal geweckt von einer blassen Sonne, die zögerlich über den Dächern von Erlfeld emporkletterte–, stellte sie fest, dass Seth fort war. Und dass sie so, zumindest bis zum Schulbeginn, ein wenig Ruhe und Zeit zum Nachdenken haben würde.
Und die hatte sie auch bitter nötig.
Der Himmel über der Stadt war grau an diesem Morgen, als hinge eine riesige Unwetterfront tief über den Giebeln. Aber Nele wusste, auch der schlimmste Sturm wäre harmlos gewesen gegen das, was sich dort oben wirklich zusammenbraute. Zu klar war ihre Erinnerung an das Nachtglas, als dass sie es nicht selbst durch den dünnen Wolkenschleier wiedererkannt hätte. Und auch der Riss war natürlich noch da, sogar deutlich länger jetzt, weiter geöffnet und sehr viel stärker zu allen Seiten verzweigt. An den Rändern schimmerten noch immer die Traumtropfen. Im Augenblick war dort oben zwar alles ruhig. Aber in der Nacht hatte es Geldscheine auf Erlfeld geregnet, und verschiedene Leute hatten von weiteren unheimlichen Erscheinungen berichtet. Das hatte die Radiomoderatorin des Lokalsenders erzählt, deren Kollege heute Morgen ohne jede Erklärung nicht zur Arbeit gekommen war. Überhaupt schien so einiges schiefzulaufen in den alltäglichen Abläufen– angefangen damit, dass die U-Bahn nun nicht mehr nur noch auf begrenzten Streckenabschnitten fuhr. Teilweise fuhr sie einfach gar nicht mehr. Betriebsstörungen, hieß es, aber Nele vermutete, dass es vielmehr daran lag, dass manche der Fahrer ihren Wecker überhört hatten. Überall waren diese schlafwandlerischen Menschen unterwegs, die nicht so aussahen, als würden sie irgendetwas von dem Geschehen um sie herum wirklich wahrnehmen. Und Katzen. Nervöse Katzen, wohin man blickte. Aber in dem allgemeinen Durcheinander schien das überhaupt niemand befremdlich zu finden. Niemand außer Nele natürlich.
Sie hatte sich mit Absicht sehr früh auf den Weg gemacht und sich außerdem eine alternative Route zur Schule herausgesucht, weil sie unbedingt vermeiden wollte, dass ihr und Seths Weg sich kreuzten. Am liebsten hätte sie ihn gar nicht getroffen, nur war das vermutlich nicht zu vermeiden. Auf keinen Fall aber wollte sie ihm begegnen, ehe sie nicht mit Svea gesprochen hatte. Denn Svea, so weit war Nele mit ihren Grübeleien an diesem Morgen schon gekommen, war vermutlich die beste Adresse, wenn sie sich von Seth unbemerkt auf den Weg zu Jari machen wollte. Und das wollte sie, ob Seth nun wirklich ein Verräter war oder nicht. Denn schließlich schien diese Tora im Gegensatz zu Seth genau zu wissen, was zu tun war, um Jari zu retten.
Auch auf dem Schulhof war die Stimmung außergewöhnlich angespannt. Jeder, egal ob Lehrer oder Schüler, und egal in welchem Alter, schien an diesem Morgen nur ein einziges Thema zu kennen. Nele schnappte etliche Gesprächsfetzen über wilde Träume auf, und immer wieder hörte sie auch, dass irgendjemandes Eltern sich einfach nicht hatten wecken lassen wollen. Auch die Schüler waren bei Weitem nicht vollzählig anwesend. So leer waren Nele die Gänge noch nie vorgekommen. Dabei hätte sie gerade heute ein größeres Gedränge sehr begrüßt. Es wäre dann so viel leichter gewesen, in der Menge unterzutauchen. So aber fühlte sie sich wie auf einem Präsentierteller. Sie konnte sich einfach nicht davon abhalten, ständig nervöse Blicke in die Runde zu werfen, in der Befürchtung, Seth könnte sie schon irgendwo erwarten. Und sie wagte auch nicht, in den Klassenraum zu gehen, in dem sie jetzt Englisch gehabt hätte. Denn Jari war ja im gleichen Kurs. Dort würde Seth sie also
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