Wenn die Seele nicht mehr leiden kann - Gewalt in der Ehe (German Edition)
hatten wir noch nicht mal den Parkplatz verlassen. Jubel wäre also verfrüht gewesen.
Ich biss mir so hart auf die Lippe, dass ich sogleich Blut schmeckte. David klammerte sich an mich wie ein kleines Äffchen, während wir zur Kirche fuhren. Ich war auf dem richtigen Weg, ich hatte den ersten Schritt getan.
Melanie stieß auf dem Vordersitz laute Flüche aus, während ich erzählte, was passiert war. Sie hatte mich jeden Tag angerufen, doch ausgerechnet am vorigen Abend hatte sie es vergessen. Während ich sehnlichst darauf wartete, dass sich jemand bei mir meldete. Doch was spielte das noch für eine Rolle, da ich jetzt mit meinen Freunden in dem kleinen roten Golf saß und einem neuen, ungewissen Schicksal entgegenfuhr.
Die Kirche war brechend voll, und wir drängten uns durch die Reihen der Gläubigen, die gerade einen Lobgesang anstimmten. Meine Mutter stand nahe der Kanzel. Als als sie mich sah, flüsterte sie Gabriel etwas zu und kam dann zu uns herüber. Wenn es mir nicht gut geht, dann brauche ich meine Mutter nur anzusehen, und schon kommen mir die Tränen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. In diesem Moment war es ebenso. Aber ich wollte in der Kirche keine große Szene machen. Es gab sicher viele Menschen, die bereits verstohlen zu uns herüberschauten. Ich sagte nicht, was am vorigen Abend passiert war und was mich zu diesem Entschluss veranlasst hatte, dazu war ich einfach nicht in der Lage. Es verlangte auch niemand eine Erklärung von mir.
Wir gingen hinauf in das gemütliche Büro meiner Mutter, an dessen Wänden zahlreiche Fotos von mir hingen und dessen Schreibtisch mit Papierbergen und Aktenstapeln übersät war. In einer Ecke befand sich eine verschlissene Sitzgruppe, deren fliederfarbener Lederbezug schon ganz ausgebleicht war. Der Raum roch nach Mama - Geborgenheit gemischt mit einem schwachen Duft nach Putzmittel. Wir sagten kein Wort, wir schwiegen alle. Sogar David begriff den Ernst der Situation, saß still auf dem Fußboden und spielte mit seiner Saftflasche. Die Erkenntnis, was gerade geschah, überwältigte uns.
Es war Viertel nach elf, und in weniger als zwei Stunden wurde ich zu Hause zurückerwartet. Uns blieb nur wenig Zeit, den nächsten Schritt unseres Plans in die Wege zu leiten. Melanie und Hannes fuhren in den Supermarkt, um Babybrei und Windeln für David zu kaufen. Mama, die tief in ihren Bürostuhl gesunken war, wählte die Nummer der Frauenberatungsstelle und wollte mein Erscheinen ankündigen. Doch es meldete sich nur ein Anrufbeantworter. Uns lief die Zeit davon, und bei unserer Suche nach einem sicheren Zufluchtsort für mich einigten wir uns darauf, dass ich jedenfalls nicht in der Kirche bleiben konnte. Wir mussten schnell handeln, und auch Melanie und Hannes taten gut daran, sich rasch aus dem Staub zu machen, denn mit Sicherheit würde Mati zuerst wutentbrannt bei meiner Mutter und Gabriel und danach bei meinen Freunden aufkreuzen.
Angesichts der Tatsache, dass ich selbst kein Geld besaß und auch meine Eltern nur bescheidene Einkünfte hatten, waren die Möglichkeiten, uns in einem Hotel einzulogieren, sehr begrenzt. Doch Hannes, der aus Augsburg kam, kannte eine billige Pension, wo sie immer ein Zimmer freihatten. Es war jetzt Viertel nach zwölf. Wir packten etwas Obst, Windeln, den Breikarton und die Saftflasche zusammen und trieben nach vielem Hin und Her ein Taxi auf, dessen Fahrer bereit war, den ganzen Weg bis nach Augsburg zu fahren. Wir durften Davids und meine Sicherheit nicht dadurch gefährden, dass wir auf ein lokales Taxiunternehmen zurückgriffen. Mati wäre klug genug gewesen, im Laufe einer halben Stunde sämtliche Taxizentralen in München anzurufen und meinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Melanie und Hannes einigten sich nach langer Diskussion darauf, diese Nacht ebenfalls an einem geheimen Ort zu verbringen.
Nur Mama und Gabriel harrten in der Kirche aus, in Erwartung des Wahnsinnigen, der bald wutschnaubend angerannt kommen würde. Ich selbst checkte wenig später in einer Pension in Augsburg ein.
Mein Gepäck bestand in nichts als den Windeln und ein bisschen Babybrei, und mit David in dem klobigen Kinderwagen fühlte ich mich preisgegeben und verfolgt. Ich hatte das Gefühl, als ob Mati mir hinter jeder Ecke auflauern würde. Auch hatte ich jede Person, die mir auf den Fluren freundlich zunickte, im Verdacht, mich verraten zu wollen. Minuten vergingen wie Stunden. Ich spielte mit David, um die Zeit totzuschlagen. Wie
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