Wenn Die Seele Verletzt Ist
neuropathologische Vollbild findet sich glücklicherweise eher selten (vgl. van der Kolk, 2000, S. 195ff).
Die Fähigkeit der Unterscheidung – das Tor steht zu weit offen
Die Reizdiskriminierung leidet ganz offensichtlich unter einem Trauma. Das „Tor des Bewußtseins“, wie man den Thalamus auch nennt, scheint buchstäblich eingetreten worden zu sein und läßt sich nun nicht mehr verschließen. Das Nervensystem kann deshalb nur noch eingeschränkt darüber entscheiden, welche Reize in unsere höchste Schaltzentrale Eingang finden. Es herrscht eine für Traumaopfer typische Überfrachtung bzw. Verwirrung der Sinne. Diese ist wenig erstaunlich, wenn man sich vorstellt, daß nicht nur ein Zuviel an Impulsen herein kommt, sondern auch deren Qualität vom Nervensystem nicht mehr überprüft werden kann. Auf diese Weise gelangen wenig zuträgliche, belastende, überaktivierende und blockierende Eindrücke direkt in unser Bewußtsein. Die Folge ist eine Überanstrengung des Nervensystems, welche sich durch die unmittelbare Verbindung zum Hormonsystem auch emotional, also im weitesten Sinne psychisch, niederschlägt. Die Konzentrationsfähigkeit läßt nach, Lernvorgänge funktionieren nur unter größter Anstrengung und dennoch mit mäßigem Ergebnis (schwache Merkfähigkeit). Dieses wiederum führt dazu, daß die Betroffenen einfach „abschalten“, um sich vor der undifferenzierten Flut von Ablenkungen zu schützen. Eben diese Strategie findet sich bei an Posttraumatischer Belastungsstörung leidenden Menschen. Das kann dazu führen, daß existentiell wichtige Reaktionen ausbleiben, und Wichtiges von weniger Wichtigem schlecht unterschieden werden kann (vgl. van der Kolk, 2000, S. 201f). Aus neurophysiologischer Sicht ist der Organismus also mehr oder minder ständig überfrachtet, was die Lernfähigkeit und die Lebensqualität deutlich einschränkt.
Der Überhitzung des Systems – Amygdala und Hippocampus
Wenn eine Information durch den Thalamus – das Tor des Bewußtseins – ins System gelangt, geschieht folgendes: Die Information trifft auf Amygdala und in der Folge auf den Hippocampus, die beide zum Limbischen System gehören. Amygdala und Hippocampus spielen eine wichtige Rolle bei derVerarbeitung von Emotionen und beim Gedächtnis.
Die Amygdala hat unter anderem die Aufgabe, Emotionen mit Bildern zu verbinden und Angstreaktionen zu konditionieren. Man nennt die Amygdala auch das „hot system“ – eine fast wörtlich zu nehmende Bezeichnung, denn sie registriert und kreiert Gefühle ohne diese auszuwerten. Das Gehirn macht an dieser Stelle also zunächst ein „emotionales Brainstorming“. Die regulierende Funktion von Amygdala ist hierbei eher untergeordnet aber durchaus vorhanden.
Im nächsten Schritt schaltet sich der Hippocampus ein, welcher im Gegensatz zur Amygdala offenbar eine ordnende Wirkung zu haben scheint, und den zeitlichen Ablauf, die örtlichen Gegebenheiten festhält und den Reiz auswertet. Man nennt seine Funktion deshalb auch das „cool system“. Der Hippocampus legt folglich fest, wie mit einem Stimulus umzugehen ist. Damit erfüllt er eine wichtige Kontrollfunktion. Gerät die jeweilige Funktion des „hot“ und des „cool systems“ und deren Zusammenwirken aus den Fugen, hat das verheerende Folgen für den Betroffenen. So führt eine Überforderung der Amygdala neben mangelnden Erinnerungen an natürliche Angstreaktionen auch zu einem emotionalen „Überflutetsein“. Damit ist zum einen ein natürlicher Schutzmechanismus des Organismus gestört und zum anderen „versinkt“ der Betroffene in ungeordneten Gefühlen. Hier kann bereits ein einmaliges Erlebnis nachhaltig wirken (vgl. Schocktrauma).
Ein in der Folge unzureichend funktionierender, weil überforderter Hippocampus führt zum Gedächtnisverlust auf der begrifflichen Ebene. Das Lernen aus Erfahrung ist daraufhin erheblich erschwert, denn der Betroffene hat die (traumatische?!) Erfahrung in seiner Qualität nicht „erkennen“ und „zuordnen“ können. Es findet folglich „etwas“ Eingang, was nicht innerlich begreifbar gemacht wurde. Wie bereits erwähnt, kann solcherlei Undefiniertes ein Eigenleben entwickeln, welches sich weitestgehend dem Bewußtsein entzieht. Wie soll ein Organismus aus etwas lernen, was gar nicht bezeichnet ist – also aus neuronaler Wahrnehmung betrachtet nicht bewußt existiert. Das Trauma wird folglich auch aus neuropathologischer Sicht nahezu negiert.
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