Wenn die Wahrheit nicht ruht
mehr Straftage einsammeln wollte, bemühte er sich um einen ernsten Ausdruck.
Erneut startete Verena mit Leonie zwischen den Beinen und bezwang Meter für M eter des Abhangs im Stemmbogen.
Mit einem Blick über die Schulter stellte Marc sicher, dass niemand in unmittelbarer Nähe war, den er durch sein Abfahren gefährden könnte . G leichzeitig vergewisserte er sich, dass es seinen Mädchen nach wie vor gut ging . D ann trieb er seine Skier an. Eisiger Wind schlug ihm entgegen. Sein Gesicht begann zu schmerzen, seine Ohren fühlten sich an, als würden sie im nächsten Moment abfrieren. Das würde Frostbeulen geben und das wusste er , aber es war egal. Er fand es toll. Der Schnee unter seinen Brettern war reines Pulver und das typische Knirschen Musik in seinen Ohren. Die kurzen Schwünge hatte er sich über die Jahre derart einverleibt, dass der Sch nee hinter ihm wie glitzernder Feenstaub aufstob . Es wirkte fast, als würde diese Wolke ihm tanzend folgen , um ihn spielerisch einzuhüllen. E inholen konnte sie ihn am Ende aber doch nicht . Zumindest nicht bis jetzt . Verena kniete am Streckenrand vor Leonie, um ihr den Reissverschluss der Jacke fester zuzuziehen. Als sie sich erhob und nach ihrem Mann Ausschau hielt, glaubte sie, ihren Augen nicht trauen zu können. Plötzlich, wie aus dem Nichts , schoss ein Skifahrer in halsbrecherischem Tempo aus dem unp räparierten Hang auf die Piste. Seine Fahrt verfolgend wagte sie einen Blick in d ie offensichtliche Zielrichtung - und erstarrt e. Er hielt direkt auf Marc zu.
Verena wollte Luft holen, sie wollte schreien, doch ihr stockte im wahrsten Sinne des Wortes der Atem. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sich eine beinahe lawinenartige Aufwirbelung aus reinem Schnee bildete und den unbekannten Skifahrer verschluckte. Genauso wie die Sicht auf Marc. Verena beschattete ihre Augen mit erhobener Hand, um besser sehen zu können. L angsam beruhigte sich die Oberfläche wieder, aber es war dennoch nichts zu sehen. Ungläubig, mit einem kleinen Funken Hoffnung, liess Verena ihren Blick weiter den Berg hinunter wandern. Dann sah sie es. Ein etwas kleineres , weisses Gestöber bewegte sich weiter in Richtung Tal. Ab und an blitzte ein roter Ärmel in der Sonne auf, der Verena wissen liess, dass es sich um Marc handelte. Sie wollte bereits erleichtert aufatmen, als ihr die Veränderung in der Bewegung auffiel. Es hatte nichts mehr Spielerisches, nichts mehr E legantes, es war keine neckische Verfolgung mehr . Spontan kam ihr der weisse Tod in den Sinn.
Trotz der Kälte begann sie auf einmal zu schwitzen, gleichzeitig fröstelte sie und kalte Schauer jagten über ihren Rücken. Unfähig sich zu bewegen, stand sie einfach da. Bis eine leise , ängstliche Stimme an ihr Ohr drang. Sie wusste nicht, wie lange Leonie schon nach ihr rief, aber als Leonie nach ihrer Hand griff, wachte sie aus der Starre auf. Eilig schnallte sie die Skier an, hob Leonie zwischen die Beine, setzte sie aber nicht ab und fuhr los. Es war wie ein Trancezustand. Alles schien unwirklich, die Umgebung verschwamm, es gab nur noch ihr Ziel. Je näher sie jenem kam, desto langsam er schien sich die Welt zu drehen, bis sie schliesslich anhielt . Ihr Herz zog sich zusammen und die Tränen traten ihr in die Augen. Verena setzte Leonie ab, befreite sich von den Skiern und eilte zu Marc. Er war unter einem überhängenden Felsen am Pistenrand zum Stillstand gekommen. Während seine rote Jacke fröhlich leuchtete, war sein Gesicht so weiss wie der Schnee um ihn herum. Die Augen waren geschlossen und das blieben sie auch, als Verena sich über ihn beugte, seinen Kopf vorsichtig zwischen die Hände nahm und ihn anschrie aufzuwachen. Am liebsten hätte sie ihn geschlagen, entschied sich dann aber , ihn zu küssen. Ihn förmlich mit Küssen zu ü bersähen. Es half alles nichts.
Wie lange sie das tat, wusste sie nicht. Aber auf einmal schob sie eine Hand sanft beiseite, während zwei kräftige Arme nach ihr griffen und sie festhielten. Verena wehrte sich nicht, sondern begann hemmungslos zu weinen. Was um sie herum geschah, drang nicht mehr zu ihr durch. Ganz anders als bei Leonie. Verstört und mit verständnislosem Blick hatte sie sich an dem Ort in den Schnee plumpsen lassen, an dem sie abgesetzt worden war .
Anfangs war noch alles s till. Eine unerklärliche , beängstigend einsame Ruhe lag über dem Hang, als würde alles innehalten. Doch dann brach auf einmal Hektik aus. Menschen strömten herbei,
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