Wenn die Wahrheit nicht ruht
weshalb sie das soeben getan hatte, eilte kopfschüttelnd zur Tür, riss sie auf und geriet etwas ins Schleudern beim Versuch, Sebastians Faust auszuweichen, mit der er bereits zum Anklopfen angesetzt hatte, als ihm plötzlich die dafür nötige Unterlage entzogen wurde.
„Himmel! Was tust du hier? Du hast mich zu Tode erschreckt!“
„Nun, ich…“
„Erklär es mir auf dem Weg runter, ich muss ins Restaurant“, unterbrach ihn Leonie.
„Nein, musst du nicht. Weil ich mir nämlich erlaubt habe, hochzukommen.“
Mit zusammengekniffenen Augen blieb Leonie stehen und musterte Sebastian von Kopf bis Fuss und zurück. „Lila hat gesagt , es warte ein gutaussehender Typ auf mich…“ Den Rest des Satzes liess sie in der Luft hängen.
„Das ist ja entzückend. Ich habe beim Aussuchen meines heutigen Besuchs eigentlich auch charmant und zuvorkommend angegeben und nicht störrisch und kratzbürstig.“
„Dann würde ich sagen, sind wir quitt. Was treibt dich hierher?“
„Genug der Nettigkeiten? Schade, hat gerade angefangen Spass zu machen. Aber gut. Ich habe mir einige Gedanken über unser gestriges Gespräch gemacht. Dabei kam mir die Idee, dass du vielleicht noch mit meinem Vater sprechen könntest, wenn du willst.“
„Dein Vater?“ Wäre Leonies Interesse nicht schon alleine mit dem Auftauchen Sebastians geweckt gewesen, hätte spätestens dieser Vorschlag die nötige Neugierde herausgekitzelt .
„Genau. Er hat sein ga nzes Leben hier verbracht. Zufälligerweise hat er auch als Skiliftbetreuer gearbeitet und bediente am liebsten den Sessellift des Seetalhorns. Soweit ich weiss, ging es uns damals finanziell nicht unbedingt blendend , weshalb er sich besonders intensiv mit den Möglichkeiten, die die neue Bergbahn brachte, auseinandergesetzt hat . “
„Und das sagst du erst jetzt? Wann kann ich zu ihm?“
„Sei froh, sag ich es dir überhaupt. Ich könnte auch einfach die Arme verschränken, alles ignorieren und dich für verrückt erklären. Ungefähr so, wie ich deine geröteten Augen ignoriere und es unterlasse dich zu fragen, weshalb du geweint hast.“
Leonie verzog trotzig ihren Mund. „Ich habe nicht geweint.“
„N ein , natürlich nicht. Genau d eshalb habe ich auch nicht gefragt. W ie dem auch sei. P asst dir Morgen gegen vier , bevor du deine Schicht in der Bar antrittst?“
Ein gedankenverlorenes Nicken war die einzige Antwort.
„Sehr schön. Hier.“ Ehe Leonie wusste, wie ihr geschah, drückte ihr Sebastian einen Zettel in die Finger. „Das ist der Name des Hauses und ein kleiner Wegbeschrieb. Es ist etwas ausserhalb, aber ich bin mir sicher, du findest es. Ich hoffe, dein Ovalium ist nicht zimperlich, der Weg zum Haus ist nicht unbedingt das, was man im Allgemeinen als befestigt bezeichnet . “
Wieder nur das Nicken. Sebastian wartete noch kurz ab, ob nicht vielleicht doch noch eine Erklärung für die verweinten Augen folgte, doch da kam nichts. Also sagte er sarkastisch: „ ’ Danke Sebastian, sehr lieb von dir. Wir sehen uns also morgen. ’ Immer wieder gerne, liebe Leonie. B is morgen dann. Un d was auch immer dich so aufgewühlt hat, ich hoffe, dieser Sturm legt sich bald wieder. Wiedersehen.“ Damit wandte er sich ab und ging in Richtung Treppe.
„Warte!“
Sebastian verdrängte den Schauer der Aufregung, der diese Aufforderung in ihm auslöste und blieb stehen, ohne sich umzudrehen. „Was ist?“
„Warum bist du vorbei gekommen? Ich meine, du hättest mir das alles auch am Telefon sagen können. Und sag jetzt bloss nicht, du warst gerade in der Nähe, denn das ist man angesichts der Grösse des Dorfes eigentlich immer.“
„Dann sag ich es eben nicht . “ Ohne sie noch einmal eines Blickes zu würdigen, ging er davon.
„Na, auch gut!“, grummelte Leonie und kehrte zurück in ihre vier Wände . Dort wanderte sie rastlos durch den Raum. Dabei stiess sie mit dem Fuss gegen den ungeöffneten Karton. Er kippte um und d er gesamte Inhalt ergoss sich über die sowieso schon kleine Wohnfläche. Erst stand sie nur da und a tmete tief ein und wieder aus. D ass der Inhalt hauptsächlich aus Papieren bestand, t rug nicht zur Besänftigung bei.
Sich selbst für ihre Ungeschicklichkeit verfluchend und allerlei Schimpfworte ausstossend kniete sie sich schliesslich nieder und begann, die Dokumente wieder zusammenzusuchen. Dabei wunderte sie sich, wie viele Schreiben von der Steuerverwaltung waren, in der ihr Vater als Wirtschaftsprüfer angestellt gewesen war .
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