Wenn die Wahrheit nicht ruht
ohne Ambros auch nur eines Blickes zu würdigen. „Heute Morgen ist die Frau dort drüben“, der Mann zeigte auf ein Häufchen Elend, das in sich zusammengesunken auf einem Stein sass, „schreiend aus dem Haus gelaufen, man habe eine Sau in ihrem Wohnzimmer getötet. Überall sei Blut .“ Dann senkte der Hüne verschwörerisch seine Stimme. „Doch als man ihren Mann zu Hilfe rufen wollte, war der nirgends auffindbar.“
„Tatsächlich?“ Ambros vermochte den Hauch von Schadenfreude nicht ganz zu unterdrücken. „Und was glaubt die Polizei, was geschehen ist?“
„Die sind nicht gerade auskunftsfreudig. Aber wenn Sie mich fragen, wurde da drin keine Sau abgesc hlachtet , sondern der Ehem ann. Und mal ehrlich, ich fress ’ einen Besen, wenn’s nicht die Frau war.“
„Sie denken , die Frau hat ihren Ehemann getötet?“ Ambros war entsetzt.
„Warum nicht? Vielleicht ist sie einer Affäre auf die Schliche gekommen oder er hat sonst krumme Dinger gedreht, wer weiss?“
Wer weiss? Er wusste es! Ambros e rinnerte sich an den Tag zurück, an dem dieser Schmierfink Moritz mit seinem selbstgefälligen Grinsen Ambros Verhaftung zugesehen hatte. Wichtig war er sich vorgekommen, selbstgerecht und unbesiegbar , und nun? Ja, nun behauptet e Moritz’ Ehefrau , eine Sau wäre in ihrem Wohnzimmer abgeschlachtet worden. Und damit hatte sie gar nicht mal so U nrecht.
Weitere zwei Stunden vergingen, ohne dass jemand Ambros’ Anwesenheit wa h rgenommen hätte. Also be schloss er, sich in die Höhle des Löwen zu begeben und Grächen s Bewohner ein wenig zu reizen.
Um exakt 18.30 Uhr betrat er die Gaststube, setzte sich an die Bar und bestellte sich ein Glas Weisswein . Dort verharrte er, während die Tische sich nach und nach füllten. Den einen oder anderen Blick fühlte Ambros auf sich ruhen, im Allgemeinen fühlte man sich bei seinem Anblick aber eher vage an jemanden erinnert. Niemand kam auf die Idee, dass er es leibhaftig sein könnte. Oder es fehlte ihnen schlicht der Mut nachzufragen, weil sie die Antwort scheuten. Das ging so weiter, b is um 20.00 Uhr die Tür des Wirtshauses aufflog und der Besitzer persönlich eintrat. Ambros musste feststellen, dass Hans Auftreten, abgesehen davon, dass ihm das Amt als Gemeindepräsident einige Falten mehr ins Gesicht gezeichnet hatte, unvermindert beeindruckend war . Obwohl ihn alle kannten und schätzten, wichen doch einige spürbar zurück oder vermieden angestrengt jeden Blickkontakt.
Nur nicht Ambros. Er reck te den Kopf und starrte Hans direkt über sein Weinglas hinweg an. Er musste nicht lange auf eine Reaktion warten. Beinahe gleichzeitig wie die Tür hinter dem Gemeindepräsidenten mit einem Knall ins Schloss fiel, trafen sich die Blicke. Im Gegensatz zu allen andern zögerte Hans keine Sekunde.
„Na sieh mal einer an, da verliert das Dorf einen Einwohner und erhält per Express einen anderen zurück. Sieh zu, dass die Wa a ge immer ausgeglichen bleibt, pflegte mein Grossvater zu sagen. Gott hab ihn selig.“
Offenbar hatte Hans nicht vergessen, wessen man Ambros damals beschuldigt hatte . Menschen, die Hans nicht kannten, hätten die Worte als Freude über das Wiedersehen eingestuft, doch Ambros entging die unterschwellige Feindseligkeit nicht . U nd da die meisten der Anwesenden Hans mindestens so gut kannten wie Ambros es tat , war er überzeugt, auch sie hatten den negativen Unterton bemerkt. „Ganz genau . Keiner konnte mir eindeutig etwas nachweisen, also mussten sie das Verfahren einstellen und mich gehen lassen. D er Sündenbock ist rein gewaschen und kehrt in seine Herde zurück.“
„Ist das so? Und weswegen bricht das Unglück exakt dan n erneut über das Dorf herein, wenn du wieder auftauchst?“ Hans wartete keine Antwort ab. Das musste er auch nicht. Die Menschen hatten es gehört und man konnte förmlich zusehen, wie es sich in ihre Köpfe einbrannte.
Ambros hatte damit gerechnet, dass es schwierig werden würde, er hatte es sich sogar beinahe gewünscht. Also liess er sich nicht aus der Ruhe bringen, sondern nippte weiter an seinem Wein und dachte sich mit einem grimmigen Grinsen das Seine: Willkommen zu Hause, alter Junge.
2010
Den nächsten Tag verbrachte Leonie genauso, wie sie den vorherigen beendet hatte. Liegend, auf dem weichen Sofa von Sebastians Vater. Hätte man sie nicht mit vereinten Kräften gezwungen, sich einen Moment der Ruhe zu gönnen, wäre es ihr peinlich gewesen, die Gastfreundschaft von Sebastians Vater
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