Wenn Die Wahrheit Stirbt
über Naz Maliks Tod, weil es offenbar ihrer Überzeugung nach bedeutet, dass Sandra wirklich nicht mehr zurückkommen wird. Klingt nach Gewissensbissen wegen ihres Streits mit Sandra, obwohl sie es nicht fertigbrachte, ohne Bitterkeit über ihre Meinungsverschiedenheit zu sprechen. Sie hatte den Eindruck, dass Sandra ihre Kunst nicht ernst genug nahm - sie hat ihr mehr oder weniger vorgeworfen, sie sei eher eine Innenarchitektin als eine Künstlerin gewesen. Und das mit Naz hat sie von Lucas Ritchie erfahren. Anscheinend waren die drei noch vom Kunststudium her miteinander befreundet, obwohl ich schätze, dass Pippa um einiges älter ist.«
»Ah, Lucas Ritchie«, meinte Duncan nachdenklich. »Interessanter Typ.«
Gemma drehte sich zu ihm um. »Was? Du hast ihn kennengelernt? Wie ist er denn so?«
»Sehr geschliffene Manieren. Sehr überzeugend. Sandras Arbeiten haben Ehrenplätze in seinem höchst exklusiven Club, der auf den ersten Blick koscher zu sein scheint. Und es sieht jedenfalls vorläufig so aus, als hätte er für den Tag von Naz Maliks Tod ein Alibi. Wie übrigens auch Ahmed Azad.«
»Azad könnte Auftragskiller angeheuert haben«, mutmaßte Gemma.
»Ritchie auch, denke ich. Allerdings ist mir noch kein wirklich einleuchtender Grund eingefallen, warum einer der beiden so etwas hätte tun sollen. Lucas Ritchie sagt, er sei seit Jahren mit Sandra befreundet gewesen, und selbst wenn sie tatsächlich eine Affäre hatten, kann ich mir einfach nicht vorstellen, warum
er ihr etwas hätte antun sollen. Für mich stehen Sandras Brüder immer noch an der Spitze der Verdächtigenliste.«
»Du hast mit ihnen gesprochen?« Die Kinder schauten von ihrem Spiel auf, und Gemma bemühte sich, ihre Stimme zu dämpfen. »Was haben sie gesagt?«
Duncan schwenkte den letzten Schluck Wein in seinem Glas. »Tja, das ist ja eben das Problem. Ich habe nicht mit ihnen gesprochen, und das werde ich auch nicht tun - jedenfalls nicht so bald«, fügte er hinzu, ehe er das Glas an die Lippen setzte und leerte. »Ich hatte heute Nachmittag Besuch vom Chef, der wiederum Besuch von irgendeinem hohen Tier aus dem Drogendezernat hatte. Offenbar führen die lieben Kollegen in der Gegend seit Jahren eine Undercover-Operation durch.
Es geht um Drogen, die im großen Stil vom Festland eingeschmuggelt werden; ein paar Tote hat es dabei auch schon gegeben. Und wenn die Gilles-Brüder auch sehr kleine Fische sind, ist die Lage doch im Augenblick so kritisch, dass die Kollegen alles vermeiden wollen, was für Unruhe sorgen könnte.«
»Sie sind also tatsächlich im Drogengeschäft.« Gemma wusste nicht, ob sie sich bestätigt fühlen oder schockiert sein sollte.
»In bescheidenem Ausmaß, aber ja. Und das Drogendezernat meint, wenn wir sie vernehmen würden, könnten die größeren Fische Lunte riechen. Und das heißt, dass ich auch nicht mit Gail Gilles reden darf.«
Die Kinder hatten sie unterbrochen; sie hatten plötzlich wieder auf der Terrasse gestanden und etwas zu trinken verlangt. Toby hatte Charlotte an der Hand genommen und kommandierte sie auf ziemlich unerträgliche Weise herum, aber Charlotte strahlte dabei übers ganze Gesicht, und so verzichtete Gemma darauf, ihn zurechtzuweisen.
Nachdem sie den Kindern eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank gebracht hatte, war sie wieder ins Haus gegangen,
um das Geschirr zu spülen. Duncan hatte sich erboten, den Abwasch zu übernehmen, doch sie brauchte ein wenig Zeit, um über die Ereignisse des Tages nachzudenken, und sie wollte ihm die Gelegenheit geben, sich allein mit Charlotte und den Jungs zu beschäftigen.
Wie soll ein kleines Kind das alles begreifen?, fragte sie sich. Zuerst die Mutter zu verlieren, dann den Vater, dann aus der vertrauten Umgebung des Elternhauses gerissen und von ihrem Kindermädchen getrennt zu werden, um zu einer anderen Familie zu kommen, und schließlich von dort wieder in ein fremdes Haus und zu einer neuen Familie verfrachtet zu werden. Betty hatte Charlotte natürlich versichert, dass sie sie später wieder abholen würde, aber Gemma war sich nicht sicher, ob Charlotte alt genug war, um das zu verstehen. Oder ob sie es glauben würde, angesichts der Art und Weise, wie das Schicksal in jüngster Zeit mit ihr umgesprungen war.
Als sie das Wasser abdrehte und die Teller abzutrocknen begann, kam ihr der Gedanke, dass sie selbst die einzige Konstante in Charlottes Leben war, seit dem Nachmittag, an dem ihr Vater verschwunden war. Die Vorstellung
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