Wenn Die Wahrheit Stirbt
das sei ihre kindliche Art gewesen, mit der Vorstellung vom Tod ihres Vaters umzugehen. Aber wenn Charlotte es nun gar nicht bildlich, sondern ganz wörtlich gemeint hatte?
Was, wenn Naz Charlotte an jenem Tag gesagt hatte, dass er sich aufmachen wolle, um ihre Mutter zu suchen?
Während Gemma darüber nachgrübelte, wurde Charlottes Atem ruhiger, und der Stoffelefant fiel ihr aus den entspannten Fingern. Ganz behutsam steckte Gemma ihr den Elefanten wieder unter den Arm und strich ihr eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann streckte sie sich vorsichtig ein wenig aus, wobei sie darauf achtete, Charlotte nicht zu wecken, und schloss die Augen. Das Licht der Spätnachmittagssonne, das durch die Westfenster fiel, war unangenehm hell.
Im Halbschlaf kreisten ihre Gedanken um die geographische Nähe der Schauplätze dieses Falles. Die Columbia Road als Zentrum, als Fluchtpunkt. Und ringsum, wie ungleiche Speichen eines Rades, Lou Phillips’ Wohnung … Naz’ und Lous Kanzlei … Gail Gilles’ Sozialwohnung … Pippa Nightingales Galerie. Alles nur einen Steinwurf voneinander entfernt, nicht mehr als fünf Minuten zu Fuß von einem Ort zum anderen.
War es nur Zufall, oder gab es etwas, was sie alle miteinander verband? Wohin war Sandra an jenem Tag gegangen? Wenn sie ihre Brüder zur Rede gestellt hatte, hatte sie es in der Wohnung ihrer Mutter getan? Und wenn die beiden sie getötet hatten, war Gail Gilles an der Tat beteiligt gewesen, oder hatte sie sich zumindest der Mitwisserschaft schuldig gemacht?
Und wenn Naz zu demselben Schluss gekommen war, hätte er sie dann wirklich ganz allein aufgesucht und sich ohne Gegenwehr von ihnen unter Drogen setzen lassen? Seine Leiche hatte keine Spuren äußerer Gewalt aufgewiesen.
Und wenn es so oder ähnlich abgelaufen war, welche Rolle spielte dann Lucas Ritchie bei dem Ganzen? Oder Ahmed Azad?
Nein, dachte Gemma - da war irgendetwas, das ihr entgangen war, irgendein Puzzleteil, das sie übersehen hatte. Dass Sandra Charlotte bei Roy Blakely gelassen hatte, obwohl sie kurz darauf mit Naz zum Mittagessen verabredet war, musste eine spontane Entscheidung gewesen sein. Was war Sandra an jenem Sonntagnachmittag widerfahren, auf dem Weg von der Fournier Street zur Columbia Road? Und irgendetwas war da in Sandras Collage, in der unvollendeten Arbeit in ihrem Atelier … Warum hatten die Mädchen keine Gesichter? Warum …
Das Nächste, was Gemma mitbekam, war, dass Duncan ihr Charlotte aus dem Arm nahm und dass es dunkel im Zimmer war. Sie streckte die Hand aus und protestierte schwach, doch Duncan sagte: »Schsch. Betty ist da. Schlaf schön weiter.«
Aber jetzt kam ihr der Platz neben ihr plötzlich so leer vor, und sie hatte das merkwürdige Gefühl, dass ihr etwas fehlte. Stimmen drangen von unten herauf, und dann knallte die Haustür - das war bestimmt Toby gewesen. Gemma setzte sich auf und schaltete das Licht ein, während sie sich mühte, die Reste eines unterbrochenen Traums zutage zu fördern.
Das Telefon klingelte, und sie fluchte. Was immer es gewesen war, dieses Fragment der Erkenntnis, jetzt war es unwiederbringlich verloren. Es läutete und läutete. Duncan und die Jungs waren sicher noch draußen und redeten mit Betty, dachte Gemma. Sie reckte sich nach dem Nachttisch und nahm das Telefon.
Als Duncan ein paar Minuten später heraufkam, weinte sie immer noch. Die Tränen waren unerwartet gekommen, nachdem sie aufgelegt hatte; sie hatte sie nicht zurückhalten können und hatte zu ihrem Entsetzen festgestellt, dass sie hemmungslos schluchzte.
»Gemma! Was ist passiert?« Er eilte auf sie zu, setzte sich aufs Bett und musterte sie besorgt. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja. Nein«, antwortete sie, und ihre Worte endeten in einem Schluckauf. »Ich meine, mit mir ist alles in Ordnung. Das war Jack. Winnie geht es nicht gut. Sie haben sie ins Krankenhaus einliefern müssen und ihr strikte Bettruhe verordnet, dabei ist der Geburtstermin erst in einem Monat.« Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen.
Duncan reichte ihr ein Taschentuch vom Nachttisch, und sie putzte sich die Nase. »Es wird bestimmt alles gut ausgehen«, sagte er. »Jetzt wird sie ja versorgt.«
»Die Wehen haben sie unter Kontrolle bringen können, aber ihr Blutdruck ist erhöht … Ich darf gar nicht daran denken, dass sie das Kind verlieren könnte, nach allem, was die zwei durchgemacht haben. Und ausgerechnet jetzt - Gestern im Krankenhaus, da -« Sie brachte den
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