Wenn Die Wahrheit Stirbt
verschwunden war. Das Profil kam Gemma bekannt vor, und dennoch dauerte es einen Moment, bis sie die junge Frau wiedererkannte, denn als sie sie das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie einen Schleier getragen. Es war Alia Hakim, Charlottes Kindermädchen.
26
Handel mit Kindern hat es immer schon gegeben, seit Men- schen auf dieser Erde sündigen und leiden. Josephine But- ler (1828-1906) schreibt in ihren Aufzeichnungen, Streitschriften und Tagebüchern aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Tausenden (ja, Tausenden) kleiner Mädchen, manche nicht älter als vier oder fünf, die sie in den illegalen Freudenhäusern von London, Paris, Brüssel und Genf gesehen hatte.
Jennifer Worth, Farewell to the East End
Doug Cullen riss den Ausdruck von Melodys E-Mail aus dem Ausgabefach des Druckers auf Kincaids Schreibtisch und starrte ihn an. »Wo zum Teufel hat sie das her?«
»Zeigen Sie mal.« Kincaid stand auf und nahm ihm die Blätter aus der Hand. Nachdem er die Namensliste überflogen hatte, sagte er: »Ich bin mir nicht so sicher, ob ich das wirklich wissen will. Denn was ich nicht weiß … Sie kennen den Spruch, Doug. Aber das hier könnte sich als sehr nützlich erweisen.«
Trotz intensiver Suche hatten sie nichts Anrüchiges über Lucas Ritchie oder seinen Club zutage fördern können, und von höherer Stelle - noch über Kincaids Chef - waren sie davor gewarnt worden, ihn erneut zu vernehmen.
»Was ich allerdings gerne wüsste«, fuhr Kincaid fort, »ist, was Gemma eigentlich vorhat. Melody hat am Telefon nur kryptische Andeutungen gemacht. Irgendetwas über den Tierarzt auf
der Liste …« Er sah den Ausdruck noch einmal durch. »John Truman, RCVS. Recherchieren Sie den doch mal.«
Cullen startete eine Internetsuche und las eine Adresse vor. »Ich nehme an, dass es dieser hier ist - in Hoxton. Sie meinen, weil ein Tierarzt leicht an Ketamin herankäme? Aber hatte er irgendeine Verbindung zu Naz Malik?«
»Lohnt sich auf jeden Fall, mit ihm zu reden.« Die Kollegen von Bethnal Green hielten weiterhin die Leitung für Hinweise aus der Bevölkerung offen. Doch da es keine neuen Erkenntnisse gab, konnten sie ansonsten wenig tun, und so war Kincaid in sein Büro im Yard zurückgekehrt. Noch immer war es ihm strikt verwehrt, die eine Spur im Mordfall Naz Malik zu verfolgen, die ihm am aussichtsreichsten erschien: Kevin und Terry Gilles.
Jetzt schnappte er sich sein Jackett und sagte zu Cullen: »Ist ja nicht so, als ob wir sonst irgendwelche vielversprechenden Spuren hätten.«
Gemmas erster Gedanke, als sie sah, wie Alia verstohlen durch die Tür der Beratungsstelle schlüpfte, war, dass das Mädchen in irgendwelchen Schwierigkeiten stecken musste. Brauchte sie Verhütungsmittel oder - schlimmer noch - war sie schwanger? Sie mochte sich gar nicht ausmalen, wie Alias Vater auf die eine wie die andere Situation reagieren würde, aber eines wusste sie sicher: Sie musste mit dem Mädchen reden und fragen, ob sie irgendwie helfen konnte.
Sie steckte das Handy wieder in die Tasche, ging die wenigen Meter zum Eingang der Praxis und drückte auf den Klingelknopf. Doch als sie den kleinen Empfangsbereich betrat, sah sie Alia zu ihrer Verblüffung nicht im Wartezimmer, sondern an der Anmeldung sitzen.
»Alia! Sie arbeiten hier?«
»Miss - Miss James, nicht wahr?« Alia schien erfreut, sie zu
sehen, doch dann wurde ihre Miene besorgt. »Ist mit Charlotte alles in Ordnung? Wie sind Sie - Was tun Sie hier?« Sie senkte die Stimme, obwohl sonst niemand im Raum war. »Meine Eltern haben doch nicht -«
»Nein, nein, keine Sorge. Charlotte geht es gut, und ich habe nicht mit Ihren Eltern gesprochen. Ich bin nur zufällig hier vorbeigekommen und habe Sie auf der Straße gesehen.Wissen Ihre Eltern denn nicht, dass Sie hier arbeiten?«
»Ich helfe hier freiwillig aus«, erwiderte Alia in rechtfertigendem Ton. »Nicht gegen Bezahlung. Aber nein, sie wissen es nicht. Mein Vater würde echt die Krise kriegen.«
»Und warum tun Sie es dann?«
»Weil es wichtig ist. Und weil sie es auch getan hat.«
Gemma folgte Alias Blick, und als sie sich umdrehte, sah sie zwei von Sandras Collagen über dem etwas verschlissenen Sofa und dem Tisch mit den Zeitschriften im Wartebereich hängen. Es waren kleinere Arbeiten, aber wunderschön in ihrer Struktur und Farbgebung, und in diesem Raum wirkten sie wie Paradiesvögel unter Spatzen.
»Sandra hat ihre Collagen gespendet?«, fragte sie.
»Nicht nur das. Sie hat
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