Wenn Die Wahrheit Stirbt
alles. Sie waren schon zehn Jahre verheiratet, als sie Charlotte bekamen. Dabei hatten sie den Gedanken an ein Kind fast schon aufgegeben. Sie haben einander über alles geliebt, und Sandra war
mit Leib und Seele Mutter.« Seine Worte beschworen gewisse unbehagliche Parallelen herauf, und prompt nahm die Anspannung im Raum wieder spürbar zu. Auch Tim und Hazel hatten lange gewartet, bis sie Eltern geworden waren, und Hazel war von Anfang an eine mustergültige Mutter gewesen.
»Er hat dir viel erzählt«, warf Hazel mit sarkastischem Unterton ein.
Tim brauste auf. »Wieso hast du so ein Problem damit? Er hatte sonst niemanden, mit dem er reden konnte.«
»Woher willst du wissen, dass er dir nicht einfach nur das erzählt hat, was du hören wolltest?«, gab Hazel zurück.
»Hört endlich auf damit, alle beide!«, rief Gemma entnervt, obwohl sie wusste, dass Hazel recht hatte. Was Naz Malik Tim erzählt hatte, musste nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen. Ob es Trauer oder Schuld war, die einen Menschen drückte - ein verständnisvoller Zuhörer eröffnete ihm die Chance, das eigene Leben so zu schildern, wie er es selbst gern geführt hätte. Und obwohl das vielleicht für sich genommen schon eine nützliche Information war, konnte Gemma sich damit nicht aufhalten. »Tim, du sagtest, Naz sei von der Polizei vernommen worden. Ist dabei irgendetwas herausgekommen?«
»Nein. Nicht das Geringste.« Er starrte die beiden Frauen an, als wollte er sagen: Untersteht euch, mir zu widersprechen!
»Okay.« Gemma war gewillt, ihm zu glauben, und sie legte ihm beschwichtigend die Hand aufs Knie. »Nun erzähl mir mal von dem Tag, an dem Sandra verschwand. Du sagst, es war im Mai, in der Columbia Road?«
»Sie und Charlotte wollten sich zu einem späten Mittagessen in der Brick Lane treffen. Naz war in die Kanzlei gegangen -«
»An einem Sonntag?«
»Er bereitete einen wichtigen Prozess vor. Aber am Sonntagmittag gingen sie immer zusammen essen. Naz wartete eine Stunde im Restaurant. Dann rief Sandras Freund Roy Naz an
und sagte, Sandra habe Charlotte bei ihm auf dem Markt gelassen und erklärt, sie sei in ein paar Minuten zurück, aber bis jetzt sei sie nicht wiedergekommen. Inzwischen hatte er seinen Stand abgebaut und wusste nicht, was er tun sollte.«
»Seinen Stand abgebaut? Dieser Freund hat also einen Blumenstand?«
Tim nickte. »Roy Blakely. Sandra hatte als Schülerin und Studentin jeden Sonntag bei ihm gearbeitet. Sie kannte ihn schon von Kindesbeinen an - er war wie ein Vater für sie.«
»Und sie hatte ihm nicht gesagt, wohin sie wollte?«
»Nein. Mehrere Leute, die sie vom Markt kannten, sagten aus, dass sie sie in der Columbia Road gesehen hätten, aber danach verliert sich ihre Spur völlig. Wie vom Erdboden verschluckt. Naz war verzweifelt, aber anfangs hat nicht einmal die Polizei ihn ernst genommen. Und als sie es dann taten, haben sie gleich das Haus nach Hinweisen auf ein … auf ein Verbrechen durchsucht.« Er schluckte und blickte unruhig umher, während Gemma sich vorstellte, wie die Spurensicherung ihr Programm durchgezogen hatte: Luminol, Fingerabdrücke, Spuren von Gewaltanwendung, fremde DNS, Faserspuren. Was, wenn Sandra an diesem Tag unerwartet nach Hause gekommen war und ihren Mann mit einer anderen Frau überrascht hatte?
»Sie haben jeden befragt, den Naz kannte«, fuhr Tim fort. »Seine Partnerin, seine Mandanten, seine Nachbarn. Naz sagte, danach hätte ihn niemand mehr so angeschaut wie vorher.«
»Die Polizei hat nur ihren Job gemacht«, sagte Gemma.
»Ich weiß. Aber es hat nichts gebracht, oder? Sie haben sie nicht gefunden, und jetzt ist Naz auch verschwunden.«
Gemma hielt inne und lauschte. Von oben hörte sie Schritte und leises Gemurmel - Alias Stimme im Wechsel mit der eines Kindes. Charlotte redete also doch. Leise fuhr Gemma fort: »Tim, du weißt vielleicht mehr über Naz’ Seelenzustand als irgendjemand sonst. Als er heute Morgen anrief und sagte, er wolle dich
sprechen, klang er da beunruhigt oder bedrückt? Hältst du es für möglich, dass er sich mit Selbstmordgedanken trug?«
Tim wurde kreidebleich. »Nein. Ich meine, ich weiß, dass er trauerte und zornig war, aber so etwas hätte er Charlotte niemals angetan. Und wenn überhaupt, dann klang er …« Er zog die Stirn in Falten, während er nach dem richtigen Wort suchte. »Erregt.«
»Das schließt einen Selbstmord nicht aus«, stellte Hazel pragmatisch fest, aber Tim schien sich gleich wieder angegriffen
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