Wenn die Zeit aber nun ein Loch hat
Syrien und Ägyp-ten, eine gehörige Tracht Prügel zu verabreichen, aber da Richard sowohl ein Träumer als auch ein Realist war, wußte er, daß es stets irgendwo einen Verlierer geben mußte. Nebenbei war er aus glaubwürdiger Quelle unterrichtet worden, Saladin und seine Untertanen seien notorische Gewalttäter und Kriegstreiber und würden deshalb auf dem Weg zum Weltfrieden ein ernsthaftes Hindernis darstellen.
Was Richard am meisten interessierte, war die 58
Frage, was nach der Zurückeroberung Jerusalems passieren würde; zumal er hoffte, daß sich die drei Säulen nach der Befreiung des Heiligen Landes, wankend vor Freude über den errungenen Sieg, in solch ausgelassener Stimmung befänden, daß er sie dazu überreden könnte, sich an einen Tisch zu setzen, um über Freiheit, Recht, Toleranz, das Streben nach Glück und dergleichen Themen zu diskutieren –
insbesondere dann, wenn Richard ihnen drohte, ihnen im Falle einer Weigerung gehörig die Leviten zu lesen.
Wenn Richard Coeur de Lion etwas besaß, dann war das Persönlichkeit, und deshalb willigte ein Po-tentat der christlichen Welt nach dem anderen ein, an dem großen Abenteuer teilzunehmen. Geld zur Fi-nanzierung des Projekts floß in zunehmendem Maße herein – woher es kam, wußte Richard nicht mit Sicherheit; aber es schien eine Menge zu sein, und das allein zählte –, und schon bald waren die Vorberei-tungen abgeschlossen. Begleitet von beispiellosen Jubelszenen, machte sich die riesige Expedition auf die lange Reise ins Heilige Land auf; selbst wenn die Hauptursache des allgemeinen Jubels auf der Erleichterung der europäischen Bauern beruhte, sich endlich vom Joch so vieler unverbesserlich kriegeri-scher Ritter befreit zu haben, dann handelte es sich hierbei nur um eine weitere erfreuliche Nebenwir-kung dieses gewaltigen Unternehmens.
Und dann verschwand Richard.
Verläßlichen Augenzeugenberichten zufolge wur-59
de er zum letzten Mal unter einem Olivenbaum an einem Strand auf Zypern gesehen, auf einem Schemel sitzend und mit einem Krug Met und einem Buch in der Hand etwas von Aristoteles oder ähnlich banale Urlaubslektüre. Seine Gefolgsleute suchten ihn zwar überall, fanden aber außer einem Schemel, einem leeren Krug und einer einzelnen Socke nichts.
Kurz darauf machten schmutzige Gerüchte die Runde. Die Franzosen behaupteten, König Richard sei von den Deutschen entführt worden und werde bis zur Zahlung eines Lösegeldes in einem Schloß in Bayern gefangengehalten. Die Deutschen erklärten, er sei von dem französischen König eingekerkert worden, der für Richards sichere Heimkehr zehn Millionen Goldlivres und die Abtretung Aquitaniens verlange. Die Byzantiner, durchaus ein Volk mit einem Hang zum Banalen, unterstellten, daß die Rück-gabe des Buchs, das sich Richard aus der weltberühmten Bibliothek der Benediktinerabtei von Cluny ausgeliehen habe, bereits seit drei Monaten überfällig gewesen sei und der Abt nun Richard als Sicherheit für unbezahlte Gebühren einkassiert habe. Jedenfalls wurde der Kreuzzug abgebrochen, Frankreich und Deutschland erklärten Byzanz den Krieg und brannten die große Bibliothek von Konstantinopel nieder –
wahrscheinlich als Rache für die geschmacklosen Bemerkungen der Byzantiner –, und allmählich kehrte das Leben in der christlichen Welt zur Normalität zurück. Nachdem König Richard einige Jahre lang vermißt worden war, wurde er offiziell für tot erklärt, 60
und sein Bruder Johann folgte ihm auf den Thron. In ihrer unparteiischen und nüchternen Art nahm die Geschichte eine Auswahl der glaubwürdigsten Ge-rüchte vor, um sich einen Reim auf die Geschehnisse zu machen, und die Menschheit rückte näher zusammen, um auf den schwarzen Tod zu warten.
»Das klingt ja alles wirklich sehr interessant«, log Guy, »aber bist du dir wirklich sicher, daß du mir das alles erzählen mußt, damit ich … ?«
»Ja«, unterbrach ihn de Nesle.
»Aha.«
Wie bereits erwähnt (fuhr de Nesle fort), war König Richard äußerst musikalisch, und einer seiner engsten Freunde war ein französischen Herzog namens Jean der Zweite de Nesle, bekannt als Blondel.
»Ein Verwandter von dir?« erkundigte sich Guy.
Das könne man so sagen, antwortete de Nesle; zumindest spiele Verwandtschaft dabei eine Rolle.
Neben anderen Dingen war dieser Blondel der groß-
artigste Dichter und Musiker seines Zeitalters und aus diesem Grund an Richards Hof ein sehr gern gesehener Gast.
Bevor der Kreuzzug alle
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