Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
Zimmer, bedeutete ihm, aufzulegen. Vermutlich wartete sie auf einen Anruf des Majors. Zum ersten Mal machte es ihm nichts aus. Er wusste, wenn er das Gespräch mit Mickey nicht umgehend beendete, würde er schwach werden. Würde sie auf Knien anflehen, nicht zu fahren, oder ihr hoch und heilig versprechen, einen Weg zu finden, mitzukommen – nur wie? Sollte er seine Schrottkiste verkaufen?
Sein Fahrrad, oder sein Surfbrett? Das Board wegzugeben, dazu wäre er im Notfall sogar imstande, obwohl es ein Teil von ihm war. Außerdem war es alt und mehrfach geflickt – er hatte es vor zwei Jahren gebraucht gekauft, für fünfzig Piepen. Was mochte es jetzt noch wert sein? Fünfundzwanzig? Damit würde er nicht einmal das Essen für einen Tag bezahlen können.
»Ich muss Schluss machen. Meine Mom braucht das Telefon.«
»Okay«, sagte sie zögernd. Sie klang verletzt.
»Tut mir leid, Mickey. Wegen Washington.«
»Schon okay«, flüsterte sie. »Es ist nur … Ich weiß, du hast gesagt, dass Washington nicht dein Ding ist. Ich dachte nur, dass du dich freuen würdest, mit mir zusammen hinzufahren. Dass unser Beisammensein dein Ding ist.«
»Wir sind ja wieder zusammen, sobald du zurück bist«, erwiderte er und legte abrupt auf. Hätte er das Gespräch auch nur eine Sekunde länger fortgesetzt, wäre ihm etwas herausgerutscht, was er noch nie in seinem Leben gesagt hatte – Worte, die in diesem Haus nie ausgesprochen wurden, nie gefallen waren, seit sein Vater nicht mehr vom Surfen zurückgekommen war: Ich liebe dich .
»Shane!«, schrie seine Mutter. »Hör endlich auf zu telefonieren!«
»Hab ich schon!«, schrie er zurück.
Er liebte Mickey so sehr, dass seine Hände zitterten und sein Herz klopfte, wenn er nur daran dachte, wie sie zu Hause saß und grübelte, was los sein mochte; ihre Stimme hatte so verletzt geklungen. Und sie zu verletzen war das Letzte, was er wollte. Er stand vom Bett auf und ging zu seinem Schreibtisch. Er war mit Schulbüchern vollgepackt, aber Shane hatte nicht die geringste Lust, einen Blick in eines von ihnen hineinzuwerfen.
Daneben türmten sich seitenweise Notizen für das Informationsmaterial, das sie Ranger O’Casey gebracht hatten. Shane hatte immer noch etliche Stunden gemeinnütziger Arbeit am Strand vor sich. Er wusste, womit er sich die Zeit vertreiben konnte, solange sich Mickey in Washington aufhielt – es hatte mit einem wichtigen Aspekt seiner Recherche zu tun, den Mickey und er bisher nicht berücksichtigt hatten.
Eine riskante Sache, bei der er möglicherweise sein Leben aufs Spiel setzte; doch als er nun in seinem Zimmer stand, die glückliche Stimme seiner Mutter hörte, die in der Küche telefonierte, und der Gewissheit, dass Mickey wegfahren würde, war ihm das völlig egal.
Aus Liebe zu sterben, hatte Tradition in seiner Familie. Wenn er die Fotos von seinem Vater ansah, die an der Wand hingen, wusste er, dass genau das geschehen war. Nur wer von Liebe erfüllt war, kam auf die Idee, mitten im Winter zu surfen.
So war das Leben auf den Wellen: einen Ozean unter dem Brett zu haben, das Wasser, das höher und höher stieg, sich zu einer tosenden Brandung aufbäumte, einen wie eine Riesenfaust ans Ufer zurückwarf, Welle um Welle. Für Shane gab es keine andere Möglichkeit, zum Ausdruck zu bringen, wie er das ungebändigte Gefühl der Liebe, die ganze Fülle des Lebens empfand. Ein Blick in die Augen seines Vaters verriet ihm, was niemand sonst wusste. Und das Seltsame war, dass Mickey ihn auf die Idee gebracht hatte.
Sie brauchten unbedingt ein gutes Unterwasserfoto, dann hätten sie eine todsichere Garantie dafür, dass man U-823 an Ort und Stelle beließ. Wenn ihm das gelang, würde Mickey stolz auf ihn sein.
Und dafür riskierte er alles.
18
A ls Neve in der Abenddämmerung den Strandweg entlangfuhr, fiel ihr auf, dass es mit jedem Tag länger hell blieb. Gerade ging die Sonne hinter den Kiefern auf der Straßenseite zum Landesinneren unter, breitete ihr zartes, rosafarbenes Licht über die vom Wind geformten weißen Sanddünen und dem Meer aus, das zunehmend dunkler wurde.
Als sie an der Parkwächterstation hielt, holte sie tief Luft und blickte für einen Moment auf das Wasser hinaus. Zum Strand zu kommen, hatte sie bisher immer beruhigt und wieder ins Gleichgewicht gebracht. Das Tosen der Brandung drang durch die geschlossenen Scheiben des Wagens. Draußen auf dem Meer tobte vermutlich ein Sturm, denn die Wellen waren heute haushoch. Sie
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