Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
gemeinsam nach einer Möglichkeit suchen können, das Geld aufzutreiben. Sie war so mit Mickey und ihrer Geheimniskrämerei vertieft, dass sie kaum bemerkte, wie Chris auf den Artikel tippte.
»Wie ich bereits sagte, nur noch O’Casey weit und breit. Was liest du denn da über diese zwei alten Männer? Dieser Raubvogel-Experte – der ist offensichtlich Tims Vater. Und was ist
mit dem anderen, diesem Damien? Er hat Bilder gemalt, wie Berkeley, oder?«
»Er ist Berkeley«, erwiderte Neve, ohne zu überlegen. Sie war so in Gedanken und in ihre Gefühle für Tim versunken, so durcheinander nach den Neuigkeiten über Mickey, dass ihr die Worte entschlüpft waren.
»Du machst Witze!« Chris’ Augen wurden riesengroß. »Berkeley ist Tims Onkel? «
»O Gott!« Neve ließ entsetzt den Kopf hängen. Sie hätte die Worte am liebsten zurückgenommen. »Chris, das darfst du niemandem verraten. Ich habe versprochen, kein Wort darüber verlauten zu lassen.«
»Ist es wahr?«
»Chris, er war durch den Krieg schwer traumatisiert und hat nie wieder gemalt. Tim hat mir alles erzählt, aber ich musste ihm versprechen, es für mich zu behalten.«
»Das ist ja unglaublich!«, rief Dominic di Tibor, der unbemerkt die Galerie betreten hatte. Er streifte sein Cape ab und musterte Neve mit einem rasiermesserscharfen Blick. »Sie sind ein Genie, Neve Halloran – Sie haben das Geheimnis um die Identität von Berkeley gelüftet! Ich muss Sie küssen!«
Sie senkte den Kopf, als Dominic ihr einen Kuss auf den Mund drückte; sie wusste, dass ihre eigenen Hoffnungen und ungezügelten Gefühle sie soeben an den Rand des Abgrunds gebracht hatten. Sie hatte ein Versprechen gebrochen, hatte den größten Fehler ihres Lebens begangen und ein Geheimnis preisgegeben, das zu enthüllen ihr nicht zustand.
Irgendetwas stimmte nicht mit ihrer Mutter. Mickey hatte keine Ahnung, worum es ging, aber sie spürte, dass es schlimm war.
Gestern Abend, nach der Verabredung, war Neve zur Tür hereingeschwebt als besäße sie Flügel. Sie hatte so getan, als sei nichts geschehen, und ihre ganze Aufmerksamkeit auf Mickey konzentriert, hatte sich erkundigt, wie es beim Essen mit Chris gewesen sei, und ob sie ihre Hausaufgaben gemacht habe. Dabei hatte sie gestrahlt – wie eine Prinzessin im Märchen, als wäre sie zum ersten Mal in ihrem Leben verliebt.
Was sagte das über ihren Vater aus?
Die Sache war die, dass Mickey zu ahnen begann, was es mit der Liebe auf sich hatte. Sie wusste von dem Gefühl, das an den Zehen begann, die Beine hinauflief und sich überall bis zu den Haarspitzen ausbreitete. Es war am stärksten, wenn sie Shane küsste – oder auch nur daran dachte, aber seit jenem ersten Abend am Strand hatte sie es mehr oder weniger ständig gespürt.
Gestern Abend hatte sie bemerkt, dass ihre Mutter das Gleiche empfand. Dennoch, es konnte nicht das Gleiche sein; für Mickey und Shane war es der Anfang, das erste Mal, dass sie solche Gefühle hatten. Für ihre Mutter … nun, da waren die Hochzeitsfotos im Album, das weiße Kleid auf dem Speicher, mit Mottenkugeln versehen, und sie selbst, deren Existenz davon zeugte, dass Neve schon einmal so empfunden hatte.
Was sagte das über die Liebe aus?
Vielleicht waren ihrer Mutter die gleichen Gedanken gekommen. Denn eines war sicher: Sie benahm sich heute völlig anders als gestern Abend. Mickey beobachtete sie verstohlen, als sie am Küchentisch saß und mehr oder weniger ins Leere starrte. Reglos dasaß. Kein Lächeln wie gestern Abend, kein Kuss für Mickey, keine Besorgnis, kein rascher Blick zum Telefon, als wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass es klingeln möge.
Nur eine Bemerkung, die einschlug wie eine Bombe:
»Du fährst mit nach Washington«, sagte ihre Mutter in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
»Was?«, rief Mickey erschrocken.
»Bitte gib mir die Reiseunterlagen von der Schule, die du mitbekommen hast, Mickey. War da nicht eine Einwilligungserklärung oder etwas Ähnliches dabei?«
»Ja. Aber ich weiß, dass wir uns das nicht leisten können, deshalb …«
Neve hob ungeduldig die Hand. »Das lass getrost meine Sorge sein. Ich weiß, was wir uns leisten können und was nicht. Ich bin deine Mutter, falls du es vergessen haben solltest.«
»Wie könnte ich! Und ich dachte, ich könnte Chris vertrauen. Den Fehler werde ich nicht noch einmal machen!«
»Schieb nicht die Schuld auf Chris. Du hast dir den Ärger selbst eingebrockt. Wenn die Schule dir
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