Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
wenigen Sekunden war ihr, als ob der Boden unter ihr schwankte. Sie hätte am liebsten alles ungeschehen gemacht, die Uhr zurückgedreht.
»Okay«, sagte er bedächtig. »Davon geht die Welt nicht unter.«
»Das Schlimmste kommt aber noch: Mein Chef kam zur Tür herein, genau in dem Moment. Er hat es gehört, aber ich habe ihm das Versprechen abgenommen, Stillschweigen zu bewahren. Beiden – Chris und Dominic.«
Das schien ihm mehr Kopfzerbrechen zu bereiten. Zweifel huschten über sein Gesicht, und sie machte sich noch größere Vorwürfe.
»Warum hat deine Familie seine Identität so lange geheim gehalten?«
»Vor dem Krieg malte er nur für sich selbst. Er verschenkte die Bilder an Verwandte, an Freunde … Er wurde erst nach seiner Rückkehr ›entdeckt‹. Vermutlich brachte ein Sammler einige der Bilder in seinen Besitz, und bald darauf machte das Wort die Runde. Plötzlich war mein Onkel, der malende Vogelliebhaber, ein gefragter Künstler. Und genauso plötzlich war es dann mit ihm zu Ende.«
»Zu Ende?«
»Ich meine nicht tot – er war ein völlig anderer Mensch geworden, gezeichnet vom Krieg. Er hörte auf zu malen – was die Nachfrage nur noch anheizte. Seine Familie, seine Frau und seine Töchter waren wie am Boden zerstört.«
»Töchter?« Neve fragte sich, wo sie jetzt sein mochten.
»Mein Vater wollte ihn beschützen. Vor Menschen, die neugierige Fragen stellten, sich um seine Bilder rissen, wissen wollten, warum er die Malerei an den Nagel gehängt hatte. Es war schrecklich, dass mein Onkel seine Gabe einbüßte, dass sie dem Krieg zum Opfer fiel.«
»Ein solche Gabe verliert man nicht.«
»Wenn man sie nicht nutzt, schon.« Tim zog sie an sich. »Das gilt für alles im Leben, nicht nur für die Kunst. Für jede Chance, die sich bietet – wenn man sie nicht ergreift, ist sie vertan. Ein Trauma kann die gleiche Wirkung haben. Man verliert die Fähigkeit zu sprechen, zu geben, für jemanden zu sorgen, zu lieben.«
»Sprichst du von seiner Frau und seinen Töchtern?«
Tim nickte.
»So ist es mir ergangen«, flüsterte sie und sah in seine Augen, die im Mondlicht eine tiefblaue Färbung angenommen hatten.
»Mir auch. Bis ich dir begegnet bin.«
Er küsste sie, und sie wusste, dass alles gut werden würde. Er hatte ihr verziehen. Sie schloss die Augen, spürte das Mondlicht durch ihre Lider dringen, spürte Tims Mund auf ihren Lippen und seine Arme, die sie umfingen.
Der Strand hinter ihnen, draußen am Fenster, war menschenleer. Die Surfer waren nach Hause gegangen. Sie küsste Tim und hörte das Tosen der Wellen, die ans Ufer brandeten – oder war es ihr eigener Herzschlag? Er hatte recht: Auch sie hatte die Fähigkeit eingebüßt, mit einem Mann zu reden, für ihn zu sorgen, ihn zu lieben – und sie hatte sich eingeredet, Mickeys Mutter zu sein, sei genug. Der Gedanke, dass sie diese Chance verpasst hätte, dass sie Tim um ein Haar keine Chance gegeben hätte, war unerträglich.
Sie küssten sich. Die Kerzen auf dem Tisch flackerten und Mondlicht fiel durch das Fenster. Sie hatte das Gefühl zu schweben, mit Tim auf einem Meer aus Mondschein dahinzutreiben, spürte beinahe, wie die Luft und das Wasser sich bewegten. So lange war sie in ihrem Leben vom Pech verfolgt gewesen; nun schien es, als würde sie das Glück nie mehr verlassen.
In diesem Augenblick läutete das Telefon.
Tim zögerte; Neve spürte, dass er überlegte, ob er rangehen sollte. Der Anrufbeantworter würde alles aufnehmen. Aber vielleicht war es Mickey, die versuchte, sie zu erreichen. Oder jemand anders, der eine wichtige Nachricht hatte. Tim dachte vermutlich das Gleiche, weil er sie noch einmal sanft küsste, aufstand und zu dem kleinen Tisch ging, auf dem sich Telefon, Wetterstation und Feldstecher befanden.
Er nahm ab. »Hallo.«
Neve lehnte sich zurück und wartete, war mit einem Mal angespannt.
»Oh – hallo, Beth.« Er zuckte die Schultern und sah Neve an. Was konnte sie von ihm wollen, seine Ex-Frau … rief sie ihn häufig an? Der gemeinsame Sohn hatte vermutlich eine enge Bindung geschaffen und der Verlust sie noch stärker zusammengeschweißt. Neve wandte sich ab, um nicht wie ein Eindringling zu erscheinen. Sie blickte zum Fenster hinaus auf den Mond, der sich im Wasser spiegelte. Die Wellen, die sich fortwährend bewegten, brachen das Licht in Millionen reflektierender Scherben.
Nicht die Worte, sondern die Härte in seiner Stimme weckte ihre Aufmerksamkeit.
»Wann?«, fragte er
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