Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
Anblick des Krans wurde ihr übel.
Menschen reisten aus allen Teilen des Staates an, um ihn zu sehen. Cole Landrys Ankündigung hatte offensichtlich eine Lawine losgetreten, die sich nicht mehr aufhalten ließ. Die Läden und Restaurants der Stadt machten ein Riesengeschäft – besser als in der Sommersaison, wenn an den Stränden Hochbetrieb herrschte. Die Lokalzeitung brachte einen Leitartikel über Landry, in dem es hieß, dessen Vorhaben sei kurzfristig gut für die Wirtschaft von Secret Harbor – aber was sei danach, wenn das Wrack ein für alle Mal verschwunden war? Was war mit den Tauchern, die seinetwegen herkamen? Und den Veteranen des Zweiten Weltkriegs?
Mickey hatte den Leitartikel gelesen und dachte an den Ordner mit dem Informationsmaterial, den sie Ranger O’Casey gegeben hatten, an die ersten Antworten auf die Briefe, die sie nach Deutschland geschickt hatte – fünfundfünfzig an der Zahl. Ob noch weitere kommen würden, vor allem rechtzeitig? Der Kran war eine Mahnung, dass ihnen die Zeit davonlief; sie hatten nicht einmal mehr vier Wochen zur Verfügung. Würden sie in der Lage sein, alle Hebel in Bewegung zu setzen, bevor sich der Kran ans Werk machte und U-823 wegschaffte? Und würde Mr. O’Casey weiterhin bereit sein, ihnen zu helfen?
Ihre Mutter und Mr. O’Casey waren sich nähergekommen, aber seit der Einladung zum Abendessen am Strand herrschte Funkstille zwischen den beiden. Neve wirkte in sich gekehrt. Es war nicht so, dass Mickey ihr nachspionierte, aber sie konnte nicht umhin zu bemerken, dass ihre Mutter fortwährend las und einen großen Bogen um das Telefon machte – nicht einmal dann den Hörer abnahm, wenn Chris anrief.
Ihre Mutter hatte sie immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig es war, dass man eine Tätigkeit gerne verrichtete, sich engagierte, um gute Arbeit zu leisten. Doch an jedem Morgen seit diesem Abend hatte ihre Mutter getrödelt – sich im Schneckentempo angezogen, endlos lange Kaffee getrunken und gedankenverloren zum Fenster hinausgeschaut, als hätte sie keine Lust, in die Galerie zu gehen.
»Mom, schau mal – ein Weißbauch-Tyrannvogel!«, hatte sie gestern Morgen mit Blick aus dem Küchenfenster zu ihr gesagt, als sie ihren bevorzugten Frühlingsboten entdeckt hatte.
Neve hatte nur schweigend genickt. Sie hatte sich ein müdes Lächeln abgerungen, aber keine Spur Begeisterung angesichts der Rückkehr des ersten Zugvogels gezeigt – Mitte März, pünktlich zum Frühlingsanfang.
»Wir haben ihn gemeinsam gesehen!«, hatte Mickey gesagt.
»Schön, mein Schatz«, hatte ihre Mutter erwidert, ungerührt ihren Kaffee weitergetrunken und ausgesehen, als suche sie nach einer Möglichkeit, irgendeiner, die Arbeit zu schwänzen.
Mickey hätte sie gerne gefragt, was los war, was zwischen ihr und Mr. O’Casey vorgefallen war. Obwohl ihr früher bei dem Gedanken gegraut hätte, Neve könnte eine neue Beziehung eingehen, hatte Mickey bei Mr. O’Casey ein gutes Gefühl. Sogar mehr als gut; sie war glücklich, entspannt und zufrieden gewesen, dass es ihn gab.
Doch fragen konnte sie nicht, denn dann hätte ihre Mutter den Spieß vielleicht umgedreht und wissen wollen, was zwischen Shane und ihr passiert war. Darauf hatte sie beim besten Willen keine Antwort, weil sie es selbst nicht so genau wusste. Seit sie ihm eröffnet hatte, dass sie die Klassenfahrt nach Washington mitmachen würde, war er still und verschlossen. Er ging jeden Tag surfen, bat sie aber nur noch selten, mitzukommen. Sie wusste, dass er sich ausgegrenzt fühlte und hätte ihm gerne versichert, dass es ihr egal war, ob er das Geld für Washington hatte oder nicht.
Sie wusste aber auch, dass Geld für ihn ein heikles Thema war, vor allem, weil Josh mit dem Reichtum seiner Familie protzte und jedem erzählte, dass der Kran das neueste technische Spielzeug seines Vaters sei. Mickey konnte sehen, wie sich Shane jedes Mal verkrampfte, wenn Josh auch nur den Mund aufmachte. Die Sache war nur die, dass Josh ihnen nützlich sein konnte; er war so mit seiner Prahlerei beschäftigt, dass er es gar nicht bemerken würde. Warum konnte Shane das Ganze nicht aus dieser Perspektive betrachten?
Zumindest hatte ihr Vater wieder angerufen und eine Nachricht hinterlassen – er hatte kein Wort darüber verloren, wo
er steckte, sondern nur gesagt, er sei unterwegs. Er habe die Chance, ein Geschäft im Sonnengürtel Arizonas abzuschließen – ein lukratives Geschäft. Wenn es klappte, habe er
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