Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
ausgesehen, als wäre er nie mehr zu gebrauchen. Mickey fühlte, wie tief der Schmerz war – und nicht nur das Leid der Eule, sondern auch das Leid ihrer Mutter und ihres Vaters, das düstere Geheimnis des U-Boots, und ihr eigener. Während sie Shanes Hand hielt, wurde ihr klar, dass sie nicht mehr daran glaubte, dass alles wieder gut werden könnte – die Eule würde nie wieder fliegen können und das U-Boot würde von dem großen gelben Kran weggebracht werden.
Die vier betraten die Scheune. Innen war es stockfinster, genau wie in der freien Natur. Der alte Mr. O’Casey nahm sie mit einem breiten Grinsen in Empfang. Er ging ihnen wortlos voran – und es waren auch keine Worte nötig, um zu erklären, worin das Wunder bestand: Mickey sah es mit eigenen Augen.
Die Eulen flogen.
Es war Nacht; Mickey war zum ersten Mal in der Dunkelheit hier, in der Zeit, in der die Eulen erwachten und aktiv wurden. Die Flugkorridore zwischen den Käfigen waren tagsüber meistens leer und still gewesen; sie hatte gedacht, sie würden bis in alle Ewigkeit ungenutzt bleiben, eine architektonische Spielerei, die einen unverbesserlichen Optimismus verriet. Doch heute Nacht wimmelte es darin vor Eulen.
Die gelben Augen funkelten wie Sternschnuppen. Die Flügelschläge der Schwingen besaßen eine solche Kraft, dass sich alle instinktiv duckten und vergaßen, dass sich die Eulen hinter Maschendraht befanden. Mickey blickte nach oben, sah überall braunes Gefieder. In einem der Korridore entdeckte sie Zwergohreulen im Tiefflug, in einem anderen Schleiereulen, und eine große Ohreneule, die auf einen niedrigen Ast herabstieß. Und dort hinten, im letzten Korridor, hoch über dem Käfig, in dem sie noch vor wenigen Wochen dem Tod nahe gewesen war, schwang sich die Schneeeule in die Lüfte.
»Sie fliegt!«, flüsterte Mickey.
»Wie kommt es, dass sie so schnell gesund geworden ist?«, staunte Neve.
»Wer ist denn die andere Schneeeule, die neben unserer fliegt?«, fragte Shane.
»Eure Schneeeule ist ein Männchen, und das ist seine Gefährtin«, antwortete Joe.
»Seine Gefährtin? Er hatte doch gar keine …«
»Sie haben erst hier zusammengefunden«, sagte Neve leise.
»Jemand hat sie verletzt auf Block Island gefunden und zu mir gebracht«, sagte Joe. »Ist schon eine Weile her. Sie hat überlebt, aber sie verhält sich wieder, wie es ihrer Art entspricht, wie ein Wildvogel. Und er auch.«
Mickey blickte nach oben. Das Gefieder des Weibchens war stumpf, nicht so glänzend wie das des Männchens. Aber es flog mit Eifer und unerschütterlicher Entschlossenheit. Das Eulenmännchen hatte es ins Leben zurückgeholt, und umgekehrt. Es war ein Wunder, genau wie Joe gesagt hatte.
»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Mickey.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Tag noch erleben darf. Aber unter Umständen können wir sie bald freilassen«, erwiderte Joe.
»Glaubst du wirklich?«, fragte Tim.
»Möglich wäre es.«
Die fünf standen schweigend da und sahen den Eulen zu, die mit solcher Kraft und Energie ihre Bahnen zogen, dass Mickey Angst hatte, sie könnten sich am Maschendraht ihres Korridors verletzen. Er erstreckte sich über die gesamte Länge und Breite der Scheune. Es war der größte Flugkorridor, den es hier gab, aber dennoch schienen ihn die Eulen zu sprengen, selbst mit ihrem verhaltenen Flug.
»Lassen Sie die beiden frei«, sagte Mickey plötzlich. »Jetzt gleich.«
»Mickey!«, wies Neve sie zurecht.
»Bitte!«, bettelte Mickey, an Joe gewandt. Sie verspürte beinahe einen Anflug von Verzweiflung bei der Vorstellung, dass diese wunderschönen Geschöpfe in einem Käfig eingesperrt waren, wie ihr Vater in der Gefängniszelle oder die Geister der Verstorbenen im U-Boot. »Bitte, lassen Sie sie frei.«
Der alte Mann blickte sie an. Sein Sohn war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, aber er wirkte weiser und trauriger. Er hatte die Uniform gegen Jeans und ein kariertes Hemd getauscht.
»Mickey, wir müssen sie noch eine Weile beobachten, um sicherzugehen, dass sie eine Chance haben, in Freiheit zu überleben.«
»Ich kann es nicht ertragen, sie in Gefangenschaft fliegen zu sehen.« Sie brach in Tränen aus.
Joe schloss sie in die Arme. Sie spürte seine innere Kraft, sein tiefes Verständnis, und ließ ihren Tränen freien Lauf.
»Ich denke, ich weiß, was du empfindest. Ich habe deinen Vater heute Abend besucht.«
»Meinen Dad?« Sie hob den Kopf.
»Ja.«
»Auf dem Polizeirevier?«
»Ja.«
»Ich
Weitere Kostenlose Bücher