Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
wollte ihn nicht alleinlassen. Ich dachte, wenn sie ihn freilassen und ich auf ihn warte, wird vielleicht alles wieder gut.«
»Mickey, wir möchten den Menschen helfen, die wir lieben. Und das ist nicht immer leicht. Manchmal ist warten das Beste, was wir für jemanden tun können. Das hat Tim für mich getan.«
»Er hat recht«, sagte Tim. Er stand reglos da, den Arm um Neve gelegt. Mickey sah mit tränenblinden Augen, wie der Ranger sie ansah – sein Blick war so mitfühlend, als wären sie eine Familie.
»Als ich so alt wie dein Vater war, ging es mir sehr schlecht«, sagte der alte Mann nun. »Der Krieg und der Verfall meines Bruders machten mir schwer zu schaffen, und ich suchte Vergessen im Alkohol. Kam immer seltener nach Hause, und wenn, schwieg ich mich aus. Ich habe Tim und seiner Mutter das Leben zur Hölle gemacht.«
»Sie doch nicht!«, flüsterte Mickey; sie konnte nicht glauben, dass ein Mann wie Joe O’Casey dazu imstande sein könnte.
»Doch, ich! Kein Mensch ist vor Fehlern gefeit, Mickey. Manchmal gibt sich das wieder. Lass uns davon ausgehen, dass dein Vater seinen Weg finden wird, ja? Du hättest nicht die ganze Nacht auf dem Revier warten können, aber vielleicht könnt ihr beide hier mit mir warten – wenn deine Mutter es erlaubt und Shane zu Hause anruft, um Bescheid zu sagen.«
»Mit Ihnen bei den Schneeeulen warten?«, fragte Mickey.
»Ja. Wir beobachten sie heute Nacht und entscheiden morgen früh, ob wir sie freilassen können. Shane, rufst du deine Mutter an?«
»Klar.« Neve reichte ihm ihr Handy.
Shanes Mutter ging ans Telefon. Neve nahm Mickey derweil das Versprechen ab, sie auf dem Handy anzurufen, falls sie irgendetwas benötigte. Tim ging mit seinem Vater ins Haus, um ein paar alte Schlafsäcke zu suchen. Mickey umarmte ihre Mutter, während die Vögel über ihren Köpfen flogen und lärmten.
Als Shane das Gespräch beendete, sah man auf Anhieb, dass er grünes Licht erhalten hatte. Er strahlte.
»Alles okay. Sie fährt nächste Woche nach North Carolina und hat gemeint, es sei beruhigend zu wissen, dass ich Freunde gefunden habe; das mache ihr den Abschied leichter.«
»Wie lange wird sie denn wegbleiben?«, erkundigte sich Neve.
Shane zuckte die Achseln. »Ich schätze, das kommt darauf an, wie es mit ihrem Major läuft.«
Für Neve und Tim war es an der Zeit, aufzubrechen. Mickey gab ihrer Mutter einen Abschiedskuss und umarmte Tim. Die beiden warfen einen letzten Blick auf die Eulen, dann gingen sie zum Volvo. Mickey winkte ihnen nach, als sie davonfuhren, dann kehrte sie zu Shane und Joe zurück.
»Darf ich Sie etwas fragen?«, sagte sie zu Joe. »Dieses Bild Ihres Bruders von der Schneeeule: Warum hat er ein so grausames Motiv gewählt, mit so viel Blutvergießen?«
»Das ist eine gute Frage. Soweit ich weiß, bist du die Erste, die sie stellt.«
»Und wie lautet die Antwort?«
Joe schwieg. Er blickte zur Decke der Scheune empor, auf die beiden Schneeeulen, die im Korridor hin und her flogen. Einen Moment lang kam es ihr so vor, als würde er Flugzeuge beobachten; sie erinnerte sich an die Flüge seines Bruders von England nach Deutschland, während sich Joe an der Küste Neuenglands auf Patrouillenfahrt befand.
»Mit diesem Bild wollte mein Bruder gegen den Krieg protestieren«, erwiderte Joe leise. »Es zeigt die Grausamkeit des Todes, der Kämpfe in der Luft.«
»Aber er war ein unerschrockener Pilot. Ein Kriegsheld, genau wie Sie …«
»Ein Kriegsheld, der alles verlor. Er hat zwei Töchter, wisst ihr. Ich hatte gehofft, sie heute Abend auf der Ausstellung zu sehen, aber sie sind nicht gekommen. Mein Bruder konnte nicht mehr malen, und er konnte seine Familie nicht mehr lieben.«
»Wie kann ein Mann, der so malen konnte, die Fähigkeit verlieren, andere zu lieben?«, fragte Mickey.
»Weil er gesehen hatte, was für schreckliche Dinge Menschen einander antun. Sie bewirkten, dass er die Hoffnung aufgab, und mit der Hoffnung starb die Liebe.«
Er verstummte. Dann ging er zu seiner Werkbank, wo die einzelne Zeichnung von Berkeley hing. Vielleicht dachte er an seinen Bruder. Mickey schmiegte sich an Shane. Ob es ihr gelingen würde, die schrecklichen Dinge abzuwenden, die ihm widerfahren könnten, wenn sie ihn genug liebte?
»Mickey«, flüsterte er so leise, dass sie ihr Gesicht heben musste; er küsste sie, und sie fühlte, wie sie dahinschmolz.
»Shane, es tut mir leid wegen vorhin«, flüsterte sie, als sie sich voneinander lösten.
»Was
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