Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
denn?«
»Dass ich wütend auf dich war, wegen meines Vaters. Es war nicht deine Schuld, bitte verzeih mir.«
»Lieben heißt, nie um Verzeihung bitten zu müssen«, erwiderte er mit einem Zitat aus einem alten Film.
Mickey legte den Finger an seine Lippen, gebot ihm zu schweigen. Die Nacht war voller Wunder, wie Joe O’Casey gesagt hatte, die alle damit zu tun hatten, verzeihen zu können. Menschen machten Fehler, gingen in die Irre, trafen schreckliche Entscheidungen. Doch solange es Liebe und Hoffnung gab, konnte man über Probleme reden und lernen, sie in neuem Licht zu betrachten, konnte man einander verzeihen. Wie Tim und sein Vater, wie Tim und Neve. Vor allem aber wie Shane und sie – verzeihen zu können, war unerlässlich.
»Liebe bedeutet, immer um Verzeihung bitten zu können«, flüsterte sie und küsste ihn abermals, während die Eulen unbeeindruckt ihre Bahnen zogen.
27
A ls Neve mit Tim zur Kunstgalerie zurückfuhr, damit er seinen Truck holen konnte, spürte sie die Frühlingsluft, die durch das geöffnete Fenster des Volvo drang. Die Nacht war kühl, aber sie enthielt das Versprechen, dass es bald warm werden und der letzte Schnee des Winters schmelzen würde. Die Rufe der Frühlingspfeifer ertönten bereits in den Wäldern. Und die Schneeeulen, die durch den Maschendrahtkorridor flogen, waren ein Anblick, der Anlass zur größten Hoffnung gab.
»Glaubst du, dass dein Vater die Eulen wirklich freilassen kann?«, fragte Neve während der Fahrt.
»Durchaus. Obwohl ich es nie für möglich gehalten hätte.«
»Ich auch nicht.«
Als sie durch die Innenstadt fuhren, kamen sie am Rande des Deichs vorbei. Der abnehmende Mond, der sein letztes Viertel erreicht hatte und tief am Himmel stand, warf sein Licht auf den Hafen, in dem es gelb aufblitzte. Der Kran auf dem Schleppkahn, der vor sich hin dümpelte. Allein der Anblick versetzte ihr einen Stich und trübte die Freude über den Verlauf des Abends. Als sie in die Auffahrt der Galerie einbiegen wollte, spürte sie Tims Hand auf ihrem Arm.
»Warte. Komm mit mir an den Strand.«
»Es ist schon spät.« Sie hielt am Straßenrand.
»Ich weiß. Aber Mickey ist gut aufgehoben. Du hast dein Handy dabei; falls sie etwas braucht, kann sie dich erreichen.« Tim beugte sich zu ihr und küsste sie. »Heute Nacht brauchen wir uns.«
Neve nickte. Sie beschlossen, den Truck mitzunehmen, deshalb wartete sie, bis er ausgeparkt hatte, folgte ihm dann und fuhr hinter ihm die Küstenstraße entlang. Die Nachtluft war kühl. Der gelbe Kran schaukelte auf den Wellen des geschützten Hafens, aber Neve hatte keinen Blick dafür. Sie dachte an Tim und daran, wohin sie fuhren und spürte, wie wieder Vertrauen auf das Gute in ihr keimte.
Als sie zur Rangerstation gelangten, stellte sie ihren Wagen neben Tims Truck ab. Sie hatte keine Gelegenheit gehabt sich umzuziehen und trug noch das schwarze Kleid. Das Tosen der Brandung hallte in ihren Ohren, und der Wind trug den salzigen Sprühnebel der Gischt über Strand und Dünen, streifte die Haut ihrer bloßen Arme.
Tim schloss auf und überließ ihr den Vortritt. Er wollte das Licht einschalten, doch sie drehte sich um und schmiegte sich in seine Arme und schob ihn ins Wohnzimmer. Der Viertelmond schwebte über dem Wasser, warf ein schimmerndes Netz über die Wellen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, als sie daran dachte, was dieser Strand ihnen bedeutete, und sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Tim, um ihn wissen zu lassen, was sie empfand.
Er hatte seine eigene Botschaft. Sie spürte sie in seinen Händen und Lippen, die seine Gefühle bis ins Letzte preisgaben. Sich an den Händen haltend, gingen sie ins Schlafzimmer. Sie hatte den Raum nie betreten; vermutlich war dieses Privileg ohnehin auf wenige Personen beschränkt gewesen. Es spiegelte Tims Persönlichkeit wider: Nur ein Bett und eine Kommode, ein mit Büchern über die Seefahrt angefülltes Regal, eine Karte von der Küste Rhode Islands und einige Fotos von Küstenvögeln befanden sich darin.
Und ein Bild von Frank.
Er sah darauf völlig anders aus als auf dem Bild, das Joe von ihm hatte – gekleidet in seine Ausgehuniform, blickte er ernst und würdevoll in die Kamera. Dieses Foto zeigte einen jungen Mann im Tarnanzug mit Sonnenbrille und Schlapphut, der von einem Ohr zum anderen grinste. Neve betrachtete es, sah die unbändige Lebensfreude, die sich in seinem Gesicht und in seinem Lächeln spiegelte. Es stand neben Tims Bett auf dem
Weitere Kostenlose Bücher