Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
Shane und ihrer Mutter. Es lag daran, dass sie ihren Vater unter so schrecklichen Umständen getroffen hatten. Und obwohl sie an diesen Umständen keine Schuld trugen, konnte sie die beiden auch nicht von jeder Schuld freisprechen. Shane hatte die Polizei gerufen, und ihre Mutter hatte ihn auf dem Polizeirevier einfach seinem Schicksal überlassen.
Ihre Mutter sah gerade zu ihr herüber. Bei dem ganzen Trubel am heutigen Abend hatte sie keine fünf Minuten Pause gehabt und war ständig auf den Beinen gewesen. Mickey ergriff Shanes Hand, holte tief Luft und zog ihn hinter sich her. Neve sah erschöpft und zugleich strahlend aus, wahrscheinlich, weil sich die Eröffnung der Ausstellung als so ein Erfolg erwiesen hatte, aber vielleicht lag es auch daran, dass Mr. O’Casey gekommen war.
»Hallo, Schatz.« Neve umarmte sie. Mickey ließ sie gewähren. Es war ein gutes Gefühl, sich zu versöhnen. »Hallo, Shane.«
»Wir hätten da mal eine Frage«, sagte Shane. »Zu dem Bild von der Schneeeule.«
»Genau«, sagte Mickey. »Dieser Vogel, den die Eule in den Fängen hält – was ist das für einer?«
Die vier gingen gemeinsam zu dem Bild hinüber. Inzwischen hatte sich die Galerie merklich geleert. Die letzten Gäste riefen ihnen einen Gutenachtgruß zu, und die Leute vom Partyservice waren damit beschäftigt, Ordnung in der Küche zu schaffen. Mickey stand zwischen ihrer Mutter und Shane, als sie das Bild betrachteten.
»Ich glaube, das ist ein Schneehuhn«, sagte Mr. O’Casey. »Aber ich bin mir nicht ganz sicher.«
»Beide Vögel stammen nicht aus Rhode Island«, erklärte Mickey. »Und abgesehen davon, sieht die Landschaft wie die Tundra aus, oder täusche ich mich?«
»Ich glaube, das ist die Tundra«, stimmte Neve zu. »Bei der Recherche für den Katalog fiel mir schon auf, dass es das einzige Bild ist, das nicht in unserer Gegend gemalt wurde. Was denkst du, Tim?«
»Ich denke, da gibt es nur eine Person, die das beantworten kann.«
Tim holte sein Handy heraus und tippte eine Nummer. Es läutete mehrmals, und allem Anschein nach wurde er nur mit dem Anrufbeantworter verbunden.
»Hallo, Dad. Wir sind noch in der Galerie und schauen uns das Bild von der Schneeeule an. Mickey wüsste gerne, ob es in der Arktis gemalt wurde, und wir haben uns gefragt, zu welcher Vogelart die Beute gehört …« Ein Anflug von Überraschung huschte über sein Gesicht. »Oh, hallo, Dad – habe ich dich aufgeweckt?«
Er hörte zu, dann lächelte er und seine Augen weiteten sich.
»Das gibt es doch nicht! Tatsächlich? Okay – wir kommen.« Er beendete das Gespräch und drehte sich um, sah in die erwartungsvollen Gesichter.
»Es ist ein Schneehuhn. Und die Landschaft ist die Arktis, in der Nähe der Hudson Bay.«
»Und was gibt es nicht?«, fragte Mickey. »Was ist passiert?«
Mickey sah den Blick, den ihre Mutter und er wechselten. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, und sie hatte ein Gefühl, als würde sie sich im freien Fall einer Klippe hinunter befinden. Der Tag war der reinste Horror gewesen; hatte das denn nie ein Ende?
»Ist etwas mit der Eule?« Sie packte O’Caseys Ärmel. Ihr Vater saß im Gefängnis; wenn die Eule tot war, würde sie diesen Schlag nicht verkraften.
»Mein Vater meint, es sei ein Wunder«, sagte Mr. O’Casey. »Und er nimmt dieses Wort nicht leichtfertig in den Mund.«
»Was für ein Wunder?«, fragte Neve.
»Die Eule fliegt.«
Natürlich mussten sie hinfahren, um dieses Wunder mit eigenen Augen zu sehen. Neve bezahlte den Partyservice und schloss die Galerie ab. Mr. O’Caseys Truck hatte nicht genügend Sitzplätze, deshalb quetschten sie sich in den Volvo. Neve fuhr die windige, bewaldete Landstraße entlang, die nach Norden, zur Auffangstation, führte.
Mickey und Shane saßen hinten, eng aneinandergeschmiegt, und hielten sich an den Händen. Bäume säumten den Wegrand zu beiden Seiten, dicht an dicht, das Geäst über ihnen bildete einen Baldachin. In regelmäßigen Abständen sprenkelten orangefarbene Flecke von der Straßenbeleuchtung den Boden. Schatten breiteten sich aus, erfüllten das Innere des Wagens mit Dunkelheit und Stille. Mickey sah, wie Mr. O’Casey die Hand ihrer Mutter ergriff; der Anblick stimmte sie froh und traurig zugleich.
Als sie zur Auffangstation gelangten, parkte Neve den Wagen an der gleichen Stelle wie am ersten Tag, als sie die Eule hergebracht hatten. Sie war schwer verletzt gewesen – der Schnabel war zersplittert und der Flügel hatte
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