Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
versunken, dass er den Wagen nicht bemerkte, der auf den Parkplatz fuhr. Erst als er Schritte auf der Veranda hörte, blickte er hoch – um verdutzt festzustellen, dass Neve Halloran auf der Schwelle stand.
»Hallo.« Er schob eilends seinen Stuhl zurück und stand auf. Sie schien zu zögern und sah ihn misstrauisch an – aber sie war so schön wie eh und je mit ihrem zarten Teint und den melancholischen blauen Augen. Sie trug Jeans und einen dünnen marineblauen Parka über einem salbeigrünen Kaschmirpullover und hatte eine Kamera über die Schulter gehängt. Er war fünfundfünfzig, und obwohl sie nach seiner Einschätzung etwa zehn Jahre jünger sein musste, wirkte sie mit ihren strahlenden Augen und ihrer Begeisterungsfähigkeit wie ein junges Mädchen, das noch ins College ging.
»Hallo.« Sie warf einen Blick auf den Papierwust. »Tut mir leid, wenn ich störe.«
»Sie stören nicht, ganz im Gegenteil. Ich bin froh, dass Sie gekommen sind, Sie haben mich gerettet.«
»Gerettet?«
»Ja – vor den Lehrbüchern«, sagte er, doch eigentlich meinte er etwas anderes. Er sah sie an und hätte sich gerne für seine unbedachten Worte entschuldigt, als er Mickey das Buch gebracht hatte; er hätte ihr am liebsten alles erklärt. Doch er wusste nicht, wie er es anstellen sollte – fühlte sich befangen angesichts der Erinnerung an den gestrigen Abend am Strand, als er sie bei der Beobachtung der Eule entdeckt hatte. Ihre Blicke hatten sich getroffen, und in jenem Augenblick hatte er etwas für sie empfunden, wofür es keine Erklärung oder Entschuldigung gab. »Was führt Sie zu mir?«, fragte er steif.
»Ich habe die Galerie für eine Stunde geschlossen, um die Schneeeule zu fotografieren«, erwiderte sie. »Doch allem Anschein nach hat sie den Standort gewechselt.«
»Tatsächlich? Haben Sie an der Stelle nachgeschaut, wo das Treibholz angeschwemmt wurde? Direkt hinter dem Pier?«
»Wo wir sie gestern Abend gesehen haben?« Sie nickte. Mehrere Sekunden verstrichen, und in der Stille spürte Tim, dass sie genau wie er der Erinnerung nachhing: Das Einsetzen der Dämmerung, der Himmel in sanftes Abendrot getaucht, die ersten silbernen Sterne, die aufgingen, der morsche alte Anlegesteg, die Eule, die sich in die Lüfte erhob. »Ich habe Sie dort gesehen. Aber die Eule ist verschwunden.«
»Heute Morgen war sie noch da. Ich habe beobachtet, wie sie von ihrer nächtlichen Jagd zurückkehrte. Wenn Sie möchten, suchen wir sie …«
»Ich möchte Sie aber nicht behelligen. Ich sehe, dass Sie sehr beschäftigt sind. Ich wollte nur ein paar Fotos machen, bevor die Eule auf Nimmerwiedersehen verschwindet.«
»Sind Sie Fotografin?«
»Nicht wirklich. Aber Mickey ist völlig aus dem Häuschen wegen der Eule. Sie hat sich ungemein über das Buch gefreut, das Sie ihr geschenkt haben. Ich glaube, sie würde sich freuen, ein Foto von ›ihrer‹ Schneeeule zu besitzen. So empfindet sie es … als wäre sie allein ihretwegen von der Arktis hierher geflogen.«
»Ist sie vielleicht auch.« Tim klappte lächelnd das Geschichtsbuch zu, in dem er gelesen hatte. »Also – machen wir uns auf die Suche, damit Sie Ihr Foto kriegen.«
Neve zögerte.
»Geben Sie sich einen Ruck. Ich verspreche Ihnen, kein Wort über Gerichte oder Anwälte verlauten zu lassen.«
»Ehrenwort?«
»Ich schwöre. Wir sorgen nur dafür, dass Mickey ihr Foto bekommt.«
Schließlich nickte Neve. Dieses Argument schien sie überzeugt zu haben. Tim nahm seine Jacke und sie gingen zu seinem Truck. Sie stieg ein und er drückte ihr den Feldstecher in die Hand. Er verließ den Sandparkplatz und fuhr in südöstliche Richtung, zu dem Strandabschnitt, den die Eule als Schlafplatz bevorzugt hatte.
Sie kamen am Informationszentrum vorüber, das eine kleine Ausstellung beherbergte und im Winter geschlossen war; Tim sah, wie Shane West neue Holzbretter an eines der Fenster nagelte. Der letzte Sturm aus Nordost hatte die Fensterläden abgerissen und Dachschindeln abgedeckt. Cole Landrys Trailer und seine Ausrüstung waren an der Längsseite des Gebäudes abgestellt. So wenig Tim der Gedanke anfangs behagt hatte, den Bock zum Gärtner zu machen und den Jungen genau in dem Bereich zu gemeinnützigen Diensten einzusetzen, den er zerstören wollte, hatte er sich doch als große Hilfe erwiesen. Im Endeffekt war Tim froh, dass er seine Meinung geändert und Shane behalten hatte.
»Was recherchieren Sie eigentlich?«, fragte Neve.
»Bitte?«
»Ihr Büro. Auf
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