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Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)

Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)

Titel: Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Ausrüstungsgegenständen für die Küstenwache – entdeckte er den großen Metallkäfig.
    Er gehörte zur Standardausstattung von Ranger-Stationen in Wildparks – für streunende Hunde, aggressive Waschbären und andere Probleme, die unter den Oberbegriff »Kontrolle« fielen. Er ergriff den Käfig und schleppte ihn aus dem Schuppen ins Haus hinüber.
    »Was ist denn das?« Shane hielt immer noch die in eine Decke gewickelte Eule im Arm.
    »Als Erstes müssen wir sie möglichst ruhigstellen«, erwiderte Tim und setzte den Käfig mit einem metallischen Scheppern ab. »Um zu verhindern, dass sie sich bewegt und sich noch mehr verletzt.«
    »Quatsch«, entgegnete Shane hitzig. »Das reicht nicht, Mann! Sie hat einen gebrochenen Flügel! Sie müssen …«
    »Die Eule hat bei mir nicht oberste Priorität.« Tim öffnete die Käfigtür und entfernte die Spinnweben eines ganzen Winters. Tote Fliegen, Motten und Wespen hingen in den Silberfäden, und ein paar winzige, pfirsichfarbene, noch unausgebrütete Spinneneier.
    »Was soll denn das heißen?«
    Tim säuberte rasch den Käfig. Er versuchte, tief Luft zu holen, aber es fiel ihm schwer. Er hatte das Gefühl, als schnürte ihm eine schwere Last den Atem ab. Während er überlegte, was als Nächstes zu tun war, konnte er nicht umhin, sich an die Genauigkeit und Umsicht zu erinnern, die sein Vater bei solchen Arbeiten an den Tag legte – die Aufmerksamkeit, die er dem Detail widmete, die Sanftheit, mit der er Raubvögel behandelte: Als würde er sie wegen ihrer mörderischen Schnäbel und Klauen, wegen ihres Kampfgeistes, umso mehr lieben.
    »Gib mir die Eule.« Tim stand auf.
    »Sie haben gerade gesagt, dass sie bei Ihnen nicht oberste Priorität hat.« Die Lippen des Jungen waren blau, die Augen zornig und gekränkt. Er hielt die Eule in den Armen, als wäre sie ein Baby. Tim sah, dass er zitterte; die kleinen, unter seiner Haut sichtbaren Muskeln versuchten den Körper mit dieser Bewegung warm zu halten, damit er nicht in einen Schockzustand verfiel.
    »Gib sie ihm, Shane, bitte.« Mickeys Stimme klang angsterfüllt.
    »Wir bringen die Eule zu jemandem, dem ihr Wohl wirklich am Herzen liegt. Komm, Mickey …«
    »Wir haben kein Auto«, warf Mickey ein. »Tripp hat uns hier abgesetzt, falls du dich erinnerst.«
    »Wir nehmen mein Fahrrad.« Shanes Stimme brach. Tim trat auf ihn zu, legte ihm die Hand auf die Schulter. Er spürte, wie die Anspannung des Jungen in seine eigenen Handflächen übergriff, sich bis in sein Herz fortpflanzte. Shane zuckte zusammen und wich zurück.
    »Du kannst nicht zusammen mit Mickey und der Eule auf deinem Fahrrad fahren«, meinte Tim.
    »Ich kann sehr wohl, wenn es nicht anders geht.«
    Tim schüttelte den Kopf, nahm ihm die Eule wortlos aus den Armen. Der Junge war am Ende seiner Kräfte und er spürte, wie sein Widerstand erlahmte. Mit der Eule in den Händen kauerte sich Tim nieder und bewegte sich langsam an den Käfig heran. Er war sich darüber bewusst, dass die beiden Jugendlichen ihn genau beobachteten, und er gab sich Mühe, jeden Gedanken an die Vergangenheit zu verdrängen und sich auf die Gegenwart zu konzentrieren: Den alten Mann zu vergessen und zu tun, was getan werden musste.
    Ein einziger Blick in die Augen der Eule genügte – und in diesem Moment änderte sich seine Einstellung. Diese Situation hatte nichts mit seinem Vater zu tun. Die Schneeeule war einmalig, ein seltener Gast aus der arktischen Tundra. Er dachte an Neve, die am Strand gestanden und sie mit Ehrfurcht und Staunen beobachtet hatte. Wie würde sie reagieren, wenn sie erfuhr, dass der Vogel verletzt war?
    »Ein gebrochener Flügel?«, fragte er jetzt.
    »Ja«, erwiderte Shane.
    »Der linke Flügel«, fügte Mickey hinzu.
    »Genau wie dein linkes Handgelenk«, bemerkte Shane.
    »Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«
    Zu wissen, welcher Flügel verletzt war, war für Tim eine Hilfe. Er hielt den Vogel noch immer fest und kroch ein Stück weit in den Käfig. Der Käfig war groß, ausreichend für einen Golden Retriever oder die Spannweite einer Eulenschwinge. Tim hatte keine Ahnung, ob er die richtige Größe besaß, aber ihm blieb keine andere Wahl. Behutsam legte er die Eule auf die rechte Seite, so dass der gesunde Flügel ruhiggestellt war, wickelte sie rasch aus der Decke und zog sich schnell aus dem Käfig zurück, bevor sie mit den Flügeln zu schlagen begann.
    Ihre Schreie waren schrecklich anzuhören, gingen durch Mark und Bein.
    Tim

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