Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
Krieg ums Leben?«
Joe schüttelte den Kopf. »Aber ein Teil von ihm starb. Als er aus dem Krieg heimkehrte, war er ein völlig anderer Mensch. Ich vermutlich auch. Fragen Sie meinen Sohn.« Er sah Neve an, als wollte er sie dazu zwingen, ihm die Wahrheit zu sagen. »Er war es doch, der Sie hergeschickt hat, oder? Tim, meine ich.«
»Eigentlich …« Neve verstummte, weil sie die Gefühle des alten Mannes nicht verletzen wollte, wenn sie ihm gestand, dass sein Sohn versucht hatte, ihr die Fahrt auszureden.
»Ich weiß, dass er niemals selbst gekommen wäre«, sagte Joe und winkte ab. »Also versuchen Sie gar nicht erst, ihn in Schutz zu nehmen. Er hat mir unmissverständlich klargemacht, was er von mir hält. Was ich durchaus nachfühlen kann, meistens jedenfalls. Er meint, ich sei besser für ein Zusammenleben mit Falken und Eulen geeignet als mit Menschen.«
»Ich weiß nicht.« Neve lächelte. »Auf mich machen Sie den Eindruck, als wären Sie ganz in Ordnung.«
Joe grinste, dann füllten sie den Rest der Formulare aus. Als Kuratorin der Galerie wusste Neve, wie wichtig es war, Neuzugänge ordnungsgemäß zu dokumentieren. In ihrem Fall waren es Gemälde, Zeichnungen oder Fotografien; bei Joe Wildtiere. Sie trat näher an die Werkbank heran und sah zwei Bilder an der Wand hängen. Das eine, ein Ölgemälde, zeigte einen Fischadler, der hoch über einem langen weißen Strand schwebte – und es verschlug ihr den Atem.
»Das ist ja ein Berkeley, ein Original!«
»Ich sammle ihn. Früher zumindest, bevor seine Bilder unerschwinglich wurden.«
»Ich arbeite in der Dominic-di-Tibor-Galerie. Wir bereiten eine Retrospektive seiner Werke vor. Ich schreibe gerade am Text für den Katalog … man weiß leider so wenig über ihn.«
»Ja, er war ein Geheimniskrämer. Aber ein hervorragender Vogelmaler.«
»Stimmt.«
Joe sah sie an. »Was kam zuerst? Ihre Liebe zu seinen Bildern oder Ihre Liebe zu Vögeln?«
Sie dachte nach. »Zuerst die Liebe zu den Vögeln. Dadurch wurde ich auf seine Bilder aufmerksam. Und bei Ihnen?«
»Bei mir war es genauso.« Joe betrachtete das kleine Ölgemälde. »Mein Bruder und ich streunten oft durch die Wälder und Marschen im South County; als wir älter wurden, machten wir lange Wanderungen über Jamestown nach Newport. Oder wir fuhren mit dem Rad durch die Einöde, das Vogelschutzgebiet, das später Norman Bird Sanctuary genannt wurde …«
»Dort hat Berkeley gemalt!«
»Ja. Ich erinnere mich, ihn dort gesehen zu haben; er hatte seine Staffelei aufgestellt, oben auf dem Hanging Rock, weil er dort den besten Ausblick hatte, und malte einen Schwarm Sandläufer, die unten über die Sandniederungen marschierten. Inspirierender Anblick.«
»Wie war er so als Mensch?« Neve wusste auf Anhieb, dass sie auf eine Goldmine gestoßen war.
»Eigenwillig. Trug immer einen Umhang und einen Hut, tief in die Stirn gezogen. Hätte eher nach Paris statt in die Wälder gepasst.«
»Haben Sie ihn angesprochen?«
Joe lachte. »Wehe, jemand hätte auch nur versucht, ihn beim Malen zu stören, er wäre ihm an die Gurgel gegangen. Ich habe tunlichst einen großen Bogen um ihn gemacht und selber nach Vögeln Ausschau gehalten. Es war absonderlich – sich in den Wäldern zu verlieren, um einer Drossel zu lauschen, und plötzlich riecht es nach Ölfarbe. Haben Sie jemals eine Drossel gehört? Ihr Gesang ist der schönste …«
Aber Neve hing ihren eigenen Gedanken nach und konnte es immer noch nicht fassen, etwas aus erster Hand über Berkeley zu erfahren. »Es gibt so wenig Informationen über ihn. Ich weiß nur, dass er aus Rhode Island stammte und Vogelmaler war, meiner Meinung nach ein besserer als Audubon und Fuertes … und dann war mit einem Mal Schluss. Nach 1942 gab es keine neuen Bilder mehr von ihm.«
»Wer weiß? Vielleicht ist er einfach in der Versenkung verschwunden und untergetaucht.«
»Ich habe mich immer gefragt, ob er während des Krieges in Europa gewesen und umgekommen sein könnte.«
»Der Krieg hat viele Menschenleben gefordert.«
»Ja, Sie haben recht.« Neve wartete, aber Joe schwieg und schien damit beschäftigt, das Schneeeulen-Formular in der obersten Schublade eines alten hölzernen Aktenschranks zu verstauen.
»Hey«, rief Shane von der anderen Seite der Scheune herüber. »Da ist ja noch eine Schneeeule!«
»Ein Weibchen«, fügte Mickey aufgeregt hinzu. »Ihr Gefieder ist viel dunkler.«
»Ich sagte ja schon, ich habe bisher nur eine Schneeeule in
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