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Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)

Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)

Titel: Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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durch die Rückseiten der Käfige fiel – sie öffneten sich ins Freie – und durch einen Lichtgaden, der sich über eine Seite der Wand entlangzog. Neve hörte Flügelschläge und sah einen Falken, der durch einen Maschendraht-Korridor von einer Voliere zur anderen flog. Neve folgte Joe, der den Käfig mit der Schneeeule zu einer Voliere am hinteren Ende der Scheune trug. Der Platz schien am weitesten von seinem Arbeitsbereich entfernt zu sein. Beunruhigt blieb sie stehen, und er blickte sie über seine Schulter an.
    »Was ist?«
    »Sollten Sie die Eule nicht näher an Ihrem Arbeitsbereich einquartieren? Sie ist schwer verletzt …«
    »Schneeeulen sind scheue Vögel. Sie braucht Abstand zu den anderen Vögeln, damit sie nicht noch mehr traumatisiert wird. Und hier ist noch ein Platz frei.«
    Er öffnete die Tür der Voliere, ging mit dem Käfig hinein und stellte ihn auf den Boden. Dann öffnete er die Käfigtür, und sofort schoss die Eule heraus, bereit zur Flucht. Sie versuchte zu fliegen, stürzte und verkroch sich in einer Ecke. Joe wirkte ungerührt, überließ die Eule ihrem Schicksal und sicherte die Maschendrahttür mit einem Bolzen.
    Neve trat einen Schritt zurück, und ihre Blicke trafen sich. »Wird sie es schaffen?«
    »Für eine Prognose ist es noch zu früh. Aber die meisten meiner Patienten hatten schwere Verletzungen oder Schlimmeres.« Er wies auf eine Eule, die auf einem Baum hockte. »Als die große Ohreule zu mir kam, hatte sie einen Pfeil in der Brust, der das Herz um Zentimeter verfehlt hatte, und einen gebrochenen Flügel. Kaum war sie in der Voliere, kletterte sie auch schon auf den höchsten Ast. Vögel sind zäh.«
    »Warum haben Sie die Schneeeule nicht in einer Voliere mit einem Baum einquartiert?«, fragte Shane.
    »Weil sie ihn nicht benutzen würde. Schneeeulen suchen sich ihre Schlafplätze in Bodennähe«, antwortete Mickey leise.
    »Richtig.« Der alte Mann lächelte ihr zu.
    »Sie schlafen auf dem Boden, weil die arktische Tundra, aus der sie stammen, flach und baumlos ist. Deshalb bevorzugen sie Strände und die Landebahnen von Flughäfen, wenn sie in den Süden kommen.«
    »Kluges Mädchen«, sagte Joe. »Du weißt offensichtlich eine Menge über Schneeeulen. In der Auffangstation sind die Volieren entsprechend dem natürlichen Lebensraum der Vögel ausgestattet, mit Aufbauten, die Bäumen, Ästen und Höhlennistplätzen nachempfunden sind. Es hängt von der Vogelart ab; beispielsweise brauchen Waldeulen große Höhe, um sich sicher zu fühlen. Deshalb sind einige Volieren hier bis zu fünf Meter hoch.«
    »Haben Sie die gebaut?« Shane blickte nach oben.
    »Mein Enkel und ich. Die ersten habe ich alleine gebaut, aber das war an einem anderen Ort und ist Jahre her. Aber sie wurden bald zu klein, ich brauchte mehr Platz, weil die Leute mir andauernd verletzte Vögel brachten – aus ganz Neuengland. Deshalb zog ich hierher – mein Enkel half mir, die Anlage zu errichten.«
    »Ihr Enkel?«, fragte Neve, aber Joe antwortete nicht.
    »Sind Sie Tierarzt?« Aus Shanes Mund klang selbst die einfachste Frage wie eine Herausforderung.
    Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Nein. Hab nicht mal einen College-Abschluss.«
    »Wie können Sie der Schneeeule dann helfen? Sie ist schwer verletzt, frisst und trinkt nicht …«
    Neve hätte ihm am liebsten beschwichtigend die Hand auf die Schulter gelegt und ermahnt, höflich zu sein. Sie wusste, dass er unter Stress stand – es war ihnen nicht gelungen, seine Mutter ausfindig zu machen, und obwohl er fast erwachsen war, hätte er sie als moralische Stütze gebraucht, als er in der Notaufnahme genäht werden musste. Wahrscheinlich fühlten sich Mickey und Shane nicht zuletzt wegen des jeweils fehlenden Elternteils so eng miteinander verbunden. Doch der alte Mann schien Shanes rüden Ton kaum wahrzunehmen.
    »Das Wichtigste ist, den gebrochenen Lebenswillen der verletzten Vögel wieder zu wecken.«
    »Aber …«
    »Deshalb sind die Volieren so groß und geräumig. Frank hat mir geholfen, die Flugkorridore anzubringen, damit die Vögel Wahlmöglichkeiten haben. So oft wie es geht … Sie müssen ihr Territorium auswählen und ihren Schlafplatz, in einer Höhe, die ihnen behagt; sie müssen entscheiden, ob sie Abgeschiedenheit oder Sichtbarkeit haben möchten, ob sie allein bleiben oder Gesellschaft wollen.«
    »Gesellschaft?«, fragte Neve.
    »Hier gibt es etliche Vögel, die sich zu Paaren zusammengefunden haben und

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