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Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)

Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)

Titel: Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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ist sich nicht sicher.«
    »Gut, dann hat er ja eine Aufgabe. Einen Vogel zu retten, der zu einer seltenen Art gehört. Nyctea scandiaca. Ich wette, er hatte noch nie eine in seiner Obhut.«
    »Doch, ein Weibchen; man fand sie auf Block Island.«
    Nun war es an Tim, sie fassungslos anzuschauen; aber dass sein Vater gleich zwei seltene Vögel betreute, die eigentlich im hohen Norden beheimatet waren, war eine angenehme Überraschung. Nicht zu vergleichen mit dem Schock, als seine Ex-Frau anrief, um ihm mitzuteilen, dass zwei Offiziere in Uniform vor der Tür standen, oder zwei Tage nach der Beerdigung des eigenen Sohnes einen Brief von ihm zu erhalten.
    »Das freut mich«, sagte Tim. »Nach der Hiobsbotschaft bezüglich des U-Boots kann er jede gute Nachricht gebrauchen. Der 17. April; ausgerechnet an diesem Tag soll es weggeschafft werden. Wenigstens kann sich mein Vater freuen, die zweite Eule in seiner Obhut zu haben. Vor allem, weil es diesmal ein Männchen ist. Mit Sicherheit denkt er bereits an die Jungen, die nächstes Jahr um diese Zeit schlüpfen werden.«
    »Tim …«
    »Wenn man Vögel beobachtet, ist jeder Tag voller Überraschungen, wie Weihnachten. Wussten Sie das nicht?« Sein Blick schweifte über den Strand und zum Horizont. »Schauen Sie sich doch die Vögel an: Eiderenten, zwei Seetaucher-Arten, drei Trauerenten-Arten, ein Säger, zwei Ohrenscharben … man weiß nie, was einen erwartet. Alles ist möglich.«
    »Stimmt.« Sie hielt immer noch die weiße Feder.
    »Frank war ein leidenschaftlicher Vogelbeobachter.«
    »Wirklich?«
    Tim nickte und kniff die Augen zusammen, als er auf die Wellen hinausblickte, auf eine Treibholzansammlung, die eine Schar Büffelkopfenten als Floß benutzte. »Er hat im Irak Vögel beobachtet. Wir haben nicht viele Briefe von ihm erhalten – er war ja nur kurz dort. Aber wenn er schrieb, dann über Vögel. Haubenlerchen, Maskenwürger, Bienenfresser, Türkentauben, Haussperlinge, Sumpfhühner … Zwergscharben, die nur halb so groß waren wie unsere heimischen Kormorane.«
    »Er muss ein bemerkenswerter junger Mann gewesen sein.«
    Tim nickte. »So ist es.«
    »Über dem Schreibtisch Ihres Vaters hängt ein Foto von ihm.«
    »Kann ich mir lebhaft vorstellen.« Seine Stimme klang mit einem Mal angespannt. Er starrte auf die Wellen, auf die Kormorane, die anmutig über das Wasser glitten. Ihre Silhouetten waren flach und schwarz, wie U-Boote im Miniaturformat. Ob sie Mickeys Geistern begegneten, wenn sie nach Fischen tauchten? »Ich habe versucht, meinen Vater zum Reden zu bringen. Schon immer, seit ich ein kleiner Junge war. Ich bin ihm auf Schritt und Tritt gefolgt, habe versucht, ihm bei der Betreuung der Vögel zu helfen und mir gewünscht, er würde mir endlich erzählen, was geschehen ist.«
    »Was geschehen ist?«
    »Im Krieg. Als er das U-Boot versenkte. Heranwachsende möchten hören, wie es kam, dass ihre Väter Kriegshelden wurden. Es war eines der wichtigsten Ereignisse in seinem Leben – jeder wusste davon. Meine Freunde fragten mich oft danach, und ich gab die Fragen an ihn weiter. Einmal hat er sie beantwortet und mir einen Teil der Geschichte erzählt. Aber nur einen Teil.«
    »Vielleicht war der Rest zu schmerzlich«, erwiderte Neve ruhig.
    »Mag sein.«
    Sie saßen stumm nebeneinander, in die Betrachtung der Eulenfeder versunken.
    »Er hat mit Frank darüber gesprochen«, erklärte Tim nach einer Weile.
    »Warum?«
    Tim zuckte die Achseln, als hätte er keine Ahnung – doch er wusste es. Als sich sein Herzschlag etwas beruhigte, sagte er: »Im Lauf der Zeit wird der Krieg zu einem Mythos.«
    »Einem Mythos?«
    »Er verwandelt sich in eine Geschichtsstunde. Man hört auf, das Blut zu riechen, die eigene Angst zu schmecken, sich daran zu erinnern, wie es war, den Kameraden neben dir sterben zu sehen; man beginnt davon zu erzählen, als wäre es eine Geschichte, die einen nicht selbst betrifft. Bei mir hatte mein Vater diesen Abstand nicht, der Krieg wirkte noch in ihm nach, Tag für Tag. Als Frank in dem Alter war, sich dafür zu interessieren, hatte die Zeit die Schrecken genommen.«
    Neve hörte stumm und aufmerksam zu.
    »Frank hat die Geschichten geradezu aufgesogen. Sein erster Gang nach Schulschluss führte in die Scheune – er half meinem Vater, die Volieren und Flugkorridore zu bauen. Mein Vater muss nonstop geredet haben, stundenlang – denn Frank kam nach Hause und erzählte mir, was sich damals an dem kalten Apriltag zugetragen

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