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Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)

Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)

Titel: Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Jacke mit Surfboard-Emblem. Er trug weder Mütze noch Handschuhe; an seiner Schläfe befand sich eine frisch genähte Platzwunde. Joe fühlte, wie der Junge ihn musterte und wusste, was er sah: einen alten Mann, der auf die 86 zuging, zwar eins neunzig maß, doch vom Alter gebeugt war, mit kurzen ergrauten Haaren und grimmig gerunzelter Stirn. Joe wusste, dass er damit selbst die tapfersten Männer einzuschüchtern vermochte, und dieser Bursche sah nicht besonders tapfer aus. Abgebrüht, vielleicht – aber wie tapfer konnte ein Surfer schon sein?
    »Findest du alleine raus?«, hakte Joe nach.
    »Wir haben einen verletzten Vogel bei uns.«
    »Und ich sagte, ich habe keinen Platz …«
    »In der Herberge. Ich weiß.« Der Junge schüttelte den Kopf – dieses Mal eher enttäuscht als zornig. Er wandte sich zu der Frau und dem Mädchen um, die im Auto warteten, und zuckte die Schultern.
    »Hast du ein Problem?«, fragte Joe.
    »Sie sind anders, als ich erwartet hatte.«
    »Was zum Teufel hast du denn erwartet? Du kennst mich doch gar nicht.«
    »Ich weiß einiges über den Mann, der das U-Boot versenkt hat, dachte ich zumindest.«
    »Du bist Surfer, oder?« Joe nickte in Richtung des Emblems auf der Jacke des Jungen. »Surfer und alte Navy-Veteranen haben nicht viel gemein.«
    »Ja. Scheint so. Auch wenn ich es mir anders vorgestellt hatte.«
    Der Junge machte auf dem Absatz kehrt und ging zum Wagen zurück. Joe sah, wie die Frau die Reaktion des Jungen an seinem Gesicht ablas – Unmut wahrscheinlich – und die Fahrertür öffnete. Herrgott, auch das noch, dachte Joe. Er hatte keine Lust, die ganze Litanei noch einmal herunterzubeten, vor allem nicht vor einer so hübschen Frau wie sie. Sie hatte glatte Haare, die über hohe Wangenknochen fielen, sanfte blaue Augen und ein Lächeln, das unerschütterliche Hoffnung widerspiegelte.
    »Mr. O’Casey?«
    »Ja«, antwortete er misstrauisch. Kannten sie sich irgendwoher? Hatte seine Vergesslichkeit – normalerweise auf die Fragen beschränkt, ob er seine Tabletten genommen, wo er seine Lesebrille hingelegt und ob er die Vögel gefüttert hatte – inzwischen solche Formen angenommen, dass er sich nicht einmal an eine so schöne Frau erinnerte?
    »Die Graugans?« Ihr Lächeln wurde strahlend.
    »Richtig, das bin ich.« Er hatte sich beim Klang seines Spitznamens stolz aufgerichtet.
    »Wir haben Ihnen einen neuen Patienten gebracht. Meine Tochter und ihr Freund haben sie gestern Abend am Strand aufgelesen.«
    »Ich habe Ihrem jungen Surferfreund bereits gesagt, dass ich keinen …«
    Sie trat näher. Er sah, wie ihr Lächeln erlosch. Einen Moment lang glaubte er den Ausdruck abgrundtiefer Verzweiflung in ihren Augen wahrzunehmen, den er aus dem Krieg kannte – wenn jemand sich Niederlage und Tod gegenübersah, dem Verlust dessen, was am meisten zählte.
    »Bitte, Mr. O’Casey.«
    Er zögerte; der junge Mann war einen Schritt näher getreten, offenbar für den Fall, dass sie einen Beschützer brauchte. Die Geste rührte Joe, aber er verdrängte dieses Gefühl.
    »Es ist eine Schneeeule.« Die sachliche Bemerkung bot Joe genau den Ausweg, den er brauchte – um die Gefühlsduselei zu vermeiden, die ihn jedes Mal überkam, wenn er sich an Tim erinnerte, damals, als er noch ein kleiner Junge gewesen war und sie sich nahestanden.
    »Eine Schneeeule.« Er stand reglos da, den Blick auf den hinteren Teil des Kombi gerichtet. »Ein seltener Gast in unseren Breiten. Ich habe nur ein einziges Mal eine gesehen.«
    »Bitte helfen sie ihr.«
    Joe zögerte, dann nickte er – als hätte er genau auf diese Worte gewartet, was weder die Frau noch die beiden Halbwüchsigen jemals verstehen würden. Schweigend folgte er ihr zum Wagen, um den Käfig in die Scheune zu tragen.

    Die Scheune war lang, hoch und dunkelrot gestrichen. Das Dach schwang sich zu einem spitzen Giebel empor, verkleidet mit ungestrichenen Kiefernpanelen, die im Lauf der Zeit einen silbernen Schimmer angenommen hatten. Irgendwo lief ein Radio und Neve vernahm die gedämpfte Stimme eines Ansagers, der den Namen Refuge Beach erwähnte. Sie hörte auch das Rascheln und Rufen von Vögeln, Hunderte, dem Lärm nach zu urteilen. Mickey und Shane sahen sich bereits um; an den Längsseiten waren beide Wände von hohen, tiefen Volieren gesäumt – einige so groß, dass sie Zimmern aus Maschendraht glichen.
    Jede Voliere war mit einem oder zwei Vögeln belegt. Es herrschte ausschließlich natürliches Licht, das

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