Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
Rhode Island gesehen, und das ist sie«, erwiderte Joe. »Sie hatte einen lahmen Flügel und wurde letztes Jahr am Mansion Beach auf Block Island gefunden.«
»Sie haben unsere Eule direkt neben ihr untergebracht«, sagte Mickey.
Joe nickte. »Ja. Schneeeulen sind scheu, aber sie gehen untereinander Bindungen ein. Ich hoffe, dass sich die beiden gegenseitig helfen, wieder gesund zu werden.«
»Und womit?« Mickeys Stimme klang leise und sehnsüchtig.
Joe runzelte die Stirn, warf Mickey einen strengen und zugleich herausfordernden Blick zu. »Du bist doch ein kluges Mädchen. Denk mal nach.«
»Mit Liebe«, flüsterte sie.
Joe nickte. »Liebe ist das, was in der Welt wirklich zählt. Auch bei Schneeeulen.«
Neves Kehle war wie zugeschnürt. Sie wandte sich ab. Hinter Joes Werkbank, direkt neben dem Berkeley-Gemälde, hing das Foto eines jungen Mannes in Uniform. Kurzes braunes Haar, ein breites Lachen, die gleichen blauen Augen wie Joe und Tim.
»Das ist mein Enkel, Frank«, sagte Joe, als er ihren Blick bemerkte.
»Er sieht genau wie Tim aus. Und beide haben Ihre Augen.«
»Liegt in der Familie.«
»Er trägt Uniform.«
»Ja. Er gehörte zu den Marines. Genau wie sein Vater …«
»Tim war ein Marine? Ein Angehöriger der Elitekampftruppe?« Neve war überrascht.
»Richtig. Als Sanitäter, in Vietnam. Alle drei Generationen der O’Casey-Männer haben ihrem Land gedient.«
»Er redet die ganze Zeit wie ein Pazifist, während ich dort unten am Strand meine gemeinnützige Arbeit ableiste«, ließ sich Shane vernehmen. »Mir hat er einmal gesagt, ich solle mich lieber nach Kanada absetzen, bevor sie mich in den Krieg schicken. Er hat einige Sprüche über Väter und Söhne abgelassen, und dass der Krieg die Hölle ist.«
»Sieht ihm ähnlich«, meinte Joe.
Sie standen alle neben der Werkbank, während ein eisiger Wind durch einen Spalt in der Scheunenmauer drang. Neve betrachtete das Foto von Tims Sohn und spürte, wie ihr die Haare zu Berge standen.
»Wann kommt Frank nach Hause?«, fragte sie.
»Gar nicht«, erwiderte Joe O’Casey mit leiser Stimme, während ringsum die Raubvögel krächzten und mit lautem Flügelschlag durch die Korridore unter dem Scheunendach schwirrten. »Er kam gleich nach der Ankunft im Irak ums Leben; er ertrank, als sein Panzer im Euphrat versank.«
11
D ie von Cole Landry anberaumte Pressekonferenz war vorüber. Der 17. April war als Stichtag festgesetzt, an dem U-823 Rhode Island verlassen sollte. Die Wahl des Datums – der Jahrestag der Schlacht zwischen der USS James und U-823 – war der reinste Hohn. Tim vermochte sich nicht einmal vorzustellen, was sein Vater dabei empfand. Den Blick auf die Wellen gerichtet, dachte er daran, dass dieser Tag nur noch eineinhalb Monate entfernt war.
Er sah, wie die Kolonne der schwarzen Limousinen den Strandweg entlangfuhr, gefolgt von den Übertragungswagen und Trailern der Fernsehsender; vermutlich würden die Vorbereitungen für die Bergungsarbeiten in Kürze beginnen. Der Kran war bereits im Anmarsch, kam per Schiff aus Frankreich; ein Schleppkahn war von New York unterwegs. Die Planung der Operation oblag einem ganzen Heer von Ingenieuren. Häuser wurden angemietet, Hotelzimmer reserviert.
Die letzte Fernsehcrew, die Landry aufgeboten hatte, verließ bei Einbruch der Dämmerung den Strand und Tim spürte, wie der Druck allmählich von ihm wich; er konnte aufatmen, weil er den Refuge Beach endlich wieder für sich hatte. Er zog seine Jacke über und ging hinaus, stapfte durch den Sand, um nach dem Rechten zu sehen.
Eine stetige Brise wehte vom Meer herüber; sein Gesicht brannte von den Sandkörnern, die gegen sein Gesicht prasselten. Sie brannten in seinen Augen, doch er achtete nicht darauf. Den ganzen Vormittag hatte er die Zeit im Haus verbracht und gehört, wie der Sturm den Sand peitschte, und er hatte die Karte herausgenommen und den Brief gelesen. Er versuchte, das nicht zur Gewohnheit werden zu lassen, damit die Erinnerung umso lebendiger blieb. Er wollte sich ausmalen können, dass die Stimme seines Sohnes in diesem Augenblick zu ihm sprach. Er wollte seinen Geruch wahrnehmen – oder es sich zumindest einbilden können –, wenn er das Papier berührte, das Frank in den Händen gehalten hatte.
Tim hatte auf seinem Bett gelegen und den Schlaf nachzuholen versucht, der ihm nachts entgangen war. Er hätte leicht der Schneeeule die Schuld daran geben können, mit der er seine Unterkunft hatte teilen
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