Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
immer nett zu dir waren und so. Und es tut mir echt leid, wirklich.« Ich versuche abzuschätzen, was sie denkt, aber es ist, als wäre hinter ihren Augen etwas zugegangen, ein Schalter umgelegt worden, und sie steht einfach da und starrt mich stumm an. Ich rede schnell weiter. »WeiÃt du, es ist so, wir haben es eigentlich garnicht so gemeint. Ich glaube, ich â wir â haben einfach nicht richtig darüber nachgedacht. Es ist eins der Dinge, die eben so passieren. Früher haben sich auch dauernd alle über mich lustig gemacht.« Dass sie mich so anstarrt, macht mich nervös und ich lecke mir über die Lippen. »Dauernd. Und ich glaube irgendwie nicht, dass es deshalb ist, weil die Leute gemein oder schlecht sind oder so, ich glaube einfach ⦠ich glaube â¦Â« Ich gebe mir Mühe, die richtigen Worte zu finden. In meinem Kopf stoÃen Erinnerungen zusammen: der Gesang der anderen, als ich den Gang entlangging, der Bonbongeruch in Lindsays Atem am Tag, als wir Beths Tampons aus dem Fenster geworfen haben, ein Ritt auf einem Pferd zwischen verschwommenen Bäumen hindurch. »Ich glaube einfach, dass die meisten nicht nachdenken. Sie wissen es nicht. Wir â ich  â wusste es nicht.«
Ich bin ziemlich stolz auf mich, dass ich das alles rausgekriegt habe. Aber Juliet hat sich nicht gerührt oder gelächelt, sie ist noch nicht mal ausgerastet. Sie steht so still wie aus Stein gemeiÃelt da. SchlieÃlich geht ein leichtes Zittern durch ihren Körper, ein persönliches Erdbeben, und sie sieht mich an.
»Ihr wart nicht immer nett zu mir?« , sagt sie matt und mir wird ganz flau im Magen. Sie hat kein Wort von dem, was ich gesagt habe, gehört.
»Ich ⦠ja. Und das tut mir leid.«
Ihre Lider flattern. »In der siebten Klasse habt Lindsay und du all meine Kleider aus der Umkleidekabine geklaut, so dass ich den Rest des Tages über in meinen verschwitzten Sportklamotten rumlaufen musste. Dann habt ihr mich Stinke-Sykes genannt.«
»Das ⦠das tut mir leid. Ich kann mich nicht daran erinnern.« Die Art, wie sie mich anstarrt, ist furchtbar, als würde sie in mich hinein-, durch mich hindurch- und hinter mir ins Leere starren.
»Das war natürlich, noch bevor euch das mit Psycho eingefallen ist.« Juliets Stimme hat ihren melodischen Klang verloren. Sie ist völlig tonlos. Juliet hebt den Arm, tut so, als würde sie ein Messer durch die Luft schwingen, und stöÃt eine Reihe hoher Schreie aus, die mir Gänsehaut verursachen. Einen Augenblick denke ich, dass sie vielleicht wirklich verrückt ist. Dann lässt sie ihren Arm sinken. »Echt witzig. Psycho killer , quâest-ce que câest . Eingängig.«
»Früher haben immer alle diesen blöden Witz über mich gemacht. Es war so eine Art Singsang, immer wenn ich vorbeiging. Was ist überall rot und weià und seltsam â¦Â« Ich hoffe, sie zum Lachen oder Zucken oder sonst was bringen zu können, aber sie stiert mich einfach bloà weiter mit diesem stummen, animalischen Blick an, ausdruckslos.
»Ich habe das nie gesungen«, sagt sie. Als wäre sie gezwungen, alles aufzuzählen, was wir je getan haben, fährt sie dann fort: »Ihr habt mich beim Duschen fotografiert.«
»Das war Lindsay«, sage ich automatisch, während mir immer unbehaglicher zu Mute wird. Wenn sie wenigstens wütend würde â aber es ist, als würde sie mich noch nicht mal sehen, als würde sie einfach eine Liste ablesen, die sie sich eine Million Mal angesehen hat.
»Ihr habt die Fotos in der ganzen Schule aufgehängt. Wo auch Lehrer sie sehen konnten.«
»Wir haben sie nach höchstens einer Stunde wieder abgenommen.« Ich schäme mich, sobald ich es ausgesprochen habe. Als würde die Tatsache, dass wir sie abgehängt haben, es irgendwie besser machen.
»Ihr habt euch in meinen Yahoo-Account gehackt. Ihr habt meine ⦠meine privaten E-Mails veröffentlicht.«
»Das waren wir nicht«, sage ich schnell und verspüre eine Welle der Erleichterung, dass wenigstens das nicht auf unserem Mist gewachsen ist. Bis heute weià ich nicht genau, wer sich in ihren Account gehackt und den E-Mail-Wechsel zwischen Juliet und einem Typen namens Path2Pain118, den sie offensichtlich in einem Chatroom kennengelernt hatte, in Umlauf gebracht hat. Es waren Dutzende E-Mails, in denen
Weitere Kostenlose Bücher