Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
gegangen bin. Lindsays und meine Blicke begegnen sich einen Augenblick und ich hoffe, sie lächelt mich an, aber sie sieht einfach weg. Ally steht neben ihr. Sie beugt sich vor und flüstert Lindsay etwas zu, dann kommt sie zu mir rüber.
»Hallo, Sam.«
»Musstest du erst um Erlaubnis fragen, um mit mir zu reden?« Diese Wörter kommen nicht mehr so deutlich raus.
»Sei nicht so zickig.« Ally verdreht die Augen. »Lindsay ist echt wütend wegen dem, was du gesagt hast.«
»Ist Elody sauer?« Elody steht in der Ecke schwankend an Steve Brown gelehnt, während er mit Liz Hummer redet, als wäre sie gar nicht da. Ich würde am liebsten rübergehen und sie in den Arm nehmen.
Ally zögert und sieht mich unter dem Rand ihres Ponys hervor an. »Sie ist nicht sauer. Du kennst doch Elody.«
Ich weiÃ, dass Ally lügt, aber ich bin zu betrunken, um dem weiter nachzugehen.
»Ihr habt mich heute gar nicht angerufen.« Sobald ich das gesagt habe, ärgere ich mich schon darüber. Jetzt fühle ich mich wieder wie eine AuÃenseiterin, wie jemand, der versucht in eine Gruppe reinzukommen. Es war nur ein Tag, aber ich vermisse sie bereits: meine einzigen echten Freundinnen.
Ally nippt an dem Wodka in ihrer Hand, dann zuckt sie zusammen. »Lindsay ist echt ausgerastet. Ich hab dir doch gesagt, dass sie stinkwütend war.«
»Aber es stimmt doch, oder? Was ich gesagt habe.«
»Es spielt keine Rolle, ob es stimmt.« Ally schüttelt den Kopf. »Es ist Lindsay. Sie gehört zu uns. Wir gehören zusammen, weiÃt du?«
Ich habe Ally nie für besonders helle gehalten, aber das ist wahrscheinlich das Intelligenteste, was ich seit langem gehört habe.
»Du solltest dich entschuldigen«, sagt Ally.
»Es tut mir aber nicht leid.« Jetzt lalle ich echt. Meine Zunge liegt dick und schwer in meinem Mund. Sie gehorcht mir nicht. Ich will Ally alles erzählen â von Mr Daimler und Katie Carjullo und Ms Winters und den Pinschern â, aber mir fallen noch nicht mal die richtigen Wörter ein.
»Tu es einfach, Sam.« Ally lässt ihren Blick über die Party schweifen. Dann tritt sie plötzlich einen schnellen Schritt zurück. Ihr Unterkiefer klappt herunter und sie schlägt die Hände vor den Mund.
»O mein Gott«, sagt sie und starrt dabei über meine Schulter hinweg. Ihre Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln. »Ich glaubâs nicht.«
Es ist, als wäre die Zeit erstarrt, als ich mich umdrehe. Ich habe mal gelesen, dass am Rand eines schwarzen Lochs die Zeit vollkommen stillsteht, das heiÃt, wenn man dort reinsegelt, steckt man ewig fest, wird ewig auseinandergerissen, stirbt ewig. So fühlt es sich in diesem Augenblick an. Das Gewühl der Leute, die um mich herumstehen, ein endloser Rand, immer mehr Leute.
Und da steht sie in der Tür. Juliet Sykes. Juliet Sykes â die sich gestern mit der Knarre ihrer Eltern das Gehirn rausgepustet hat.
Sie hat ihre Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und ich kann nicht verhindern, dass ich es mir verknotet und blutverklebt vorstelle, mit einem groÃen schwarzen Loch darunter. Ich habe Angst vor ihr: ein Geist in der Tür, die Dinge, von denen man als Kind Albträume kriegt, die Dinge, woraus Horrorfilme gemacht sind.
Mir fällt ein Ausdruck aus einem Fernsehbericht ein, den ich im Ethik-Wahlfach über die zum Tode verurteilten Häftlinge im Todestrakt gucken musste: Toter Mann kommt. Als ich es zum ersten Mal gehört habe, fand ich es schrecklich, aber erst jetzt verstehe ich es wirklich. Es trifft auf Juliet Sykes zu, auch wenn es in ihrem Fall heiÃen müsste: Tote Frau kommt. Und auf mich trifft es in gewisser Weise wohl auch zu.
»Nein«, sage ich unbewusst laut. Ich trete einen Schritt zurück, woraufhin Harlowe Rosen aufjault und sagt: »Das war mein FuÃ.«
»Ich glaubâs nicht«, sagt Ally noch einmal, aber es klingt ganz weit weg. Sie hat sich bereits von mir weggedreht und ruft Lindsay über die Musik hinweg zu: »Lindsay, hast du gesehen, wer hier ist?«
Juliet schwankt auf der Schwelle. Sie sieht ruhig aus, aber ihre Hände sind zu Fäusten geballt.
Ich stürze vorwärts, aber genau in diesem Augenblick drängen sich alle noch enger um mich. Ich kann mir das nicht schon wieder angucken. Ich will nicht sehen, was als Nächstes passiert. Ich bin nicht sehr sicher
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