Wenn du wiederkommst
Jeromes Lieblingsfauteuil mir gegenüber und erklärt, warum er ihre langjährige Freundschaft beendete, beenden mußte, wie er sagt. Als ich vor unserer Ehe ein Jahr lang mit Jerome zusammenlebte, war
Jules unser ständiger Begleiter, wir gingen zusammen zum Essen aus, wir fuhren zusammen aufs Land, wir grillten zusammen auf dem Rasenstück, das zu seiner Etagenwohnung gehörte und zu einem Bach hin abfiel, wir saßen viele Abende auf dem Balkon in unserer Wohnung in den Jamaica Towers mit dem weiten Blick über Boston. Die beiden kamen mir vor wie Brüder, sie waren sich näher als Jerome und Harold. Nach einigen Jahren bekam ich Jules immer seltener zu Gesicht, und dann blieb er ganz weg, schlug Einladungen aus, hatte zuviel zu tun, fühlte sich nicht wohl, hatte eine neue Freundin, fand zahllose Ausreden. Aber Jerome kam nie auf die Idee, daß Jules ihn nicht mehr sehen wollte, es ist nichts zwischen uns vorgefallen, erklärte er. Er hielt Menschen, die er mochte, seine unverbrüchliche Treue, und mit einer Naivität, die nicht zu seinem Scharfsinn paßte, zweifelte er keinen Augenblick an ihrer Zuneigung. Deshalb traf ihn der Verrat eines Freundes jedesmal unvorbereitet, auch wenn alle anderen es hatten kommen sehen, er glaubte an die Menschen, die er liebte, allen Anzeichen zum Trotz und oft über den Bruch hinaus. Erst vor drei Jahren hatte er endlich begriffen, daß Jules ihn nicht mehr zu seinen Freunden zählte. Er heiratete spät in seinem Leben eine Bankmanagerin aus reichem Haus. Es war eine glamouröse Hochzeit mit zweihundert Gästen im Four Seasons, aber Jerome erfuhr davon erst durch die Anzeige im Boston Globe und gemeinsame Bekannte. Ich konnte seine Eigenheiten nicht mehr ertragen, sagt Jules jetzt und macht es sich in Jeromes Stuhl bequem, sein ganzes Leben lang diese Unzufriedenheit, diese Unfähigkeit, im Augenblick zu leben, er hat geträumt statt zu leben, und alles Wichtige hinausgeschoben, bis es zu spät war, und am unerträglichsten war dieses wehleidige Geblödel, das er für witzig hielt.
Er wollte zuviel, sagt eine Frau und bekräftigt jedes Wort mit heftigem Nicken.
Das Glück ist immer nur im Augenblick zu finden, fügt eine andere hinzu, Männer haben es schwerer mit dem Alterwerden als wir, es ist eine Sache des Loslassen-Könnens.
Wie sehr ich wünsche, Jerome wäre hier mit seinem hintergründigen Spott, mit dem er ihr in gespieltem Ernst und einer Ironie beipflichten würde, die ihr erst später zu Bewußtsein käme. Oft kommt die Rede auf Jeromes Humor, seinen unnachahmlichen Sarkasmus, jeder weiß irgendeine Geschichte über ihn zu erzählen, Jerome ist zu einer Quelle von lustigen Anekdoten geworden, zum Inbegriff jüdischen Humors. Ilana habe seinen Humor geerbt, heißt es. Aber der König der Unterhaltungskünstler war unser Vater, sagt Harold stolz. Ist keinem von ihnen emals aufgefallen, frage ich mich, daß Jeromes Witze kein gutmütiger Humor zum Schmunzeln waren, sondern anarchisch, manchmal bitter, ganz nah an der Verzweif lung?
Mehrmals am Tag läutet das Telefon, und unbekannte Stimmen verlangen Jerome zu sprechen, nein, sie wollen mir nicht sagen, worum es geht, sie müssen ihn selber sprechen, und zwar jetzt sofort. Er kann nicht ans Telefon kommen, sage ich, er ist gestorben. Oh my God, schreit die Angestellte eines Büros, dessen Namen ich nicht verstanden habe, und läßt den Hörer fallen.
Alle, denen wir in diesen Tagen begegnen, behandeln uns mit einer erschrockenen Ungeduld, als litten Trauernde an einer Unpäßlichkeit, über die man nicht spricht, und sie scheinen zu erwarten, daß wir sie mit Anstand, ohne viel Aufhebens zu machen und ohne die andern anzustecken, schnell hinter uns bringen.
Später, wenn ich mich beruhigt habe, werde auch ich die Formeln lernen, die den Tod auf Distanz halten. He passed away, werde ich Wochen später artig am Telefon erklären, wenn der rohe Schmerz sich in ein betäubtes Warten verwandelt haben wird. Aber im Augenblick bin ich noch aus der Fassung, von Verlassenheit und Sehnsucht zerrüttet und betäubt. All diese Zeugen meiner Trauer haben Bilder von gefaßten Angehörigen im Kopf, mit dunklen Sonnenbrillen und diskret an die Augen geführten Taschentüchern, gebeugte Menschen, die sich schweigend und ernst der Zeremonie öffentlicher Trauer unterziehen und dafür mit respektvoller Scheu bewundert werden. Aber meine Trauer ist zügellos und nur mit äußerster Disziplin in Schach zu halten. Ich bekomme nicht
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