Wenn du wiederkommst
entleerenden Universum horche ich auf mein stolperndes, hämmerndes Herz.
Tag und Nacht ist mir Jerome auf eine Weise nah, wie Kinder sich Gott vorstellen, als sähe er nicht nur, was wir tun, sondern auch, was wir wünschen und denken, und ich halte es für meine Pflicht, alles zu verhindern, was ihn kränken könnte. Alles, was geschieht, hat mit ihm zu tun, es gibt kein Leben mehr, das außerhalb seines Todes läge. Die Gleichung ist ganz einfach: Alles Schlechte passiert, weil er uns verlassen hat, alles Gute geschieht, weil er uns beschützt. Die Erinnerungen sind so gegenwärtig, daß sie nicht Vergangenheit werden können, sie schicken unsere Sehnsucht in eine Zukunft voraus, von der wir wissen, daß sie für alle Zeiten von uns abgeschnitten ist. Diese Sehnsucht immer wieder im Aufkeimen zu ersticken, erscheint mir als die eigentliche Grausamkeit des Todes, denn jeden Morgen von neuem, zwischen Schlaf und Erwachen, öffnet sich einen winzigen Spalt breit eine unsinnige Möglichkeit, die dann sofort in die Unmöglichkeit umschlägt. Aber der Stillstand der Zeit nimmt auch dem Vergangenen seine Lebendigkeit. Er beraubt selbst die heitersten Erinnerungen ihrer Unbeschwertheit, jeder unvergeßliche Augenblick trägt jetzt den Stempel des Unwiederbringlichen, jedes flüchtige Glück verliert seine Leichtigkeit. Alles ist schwer und bitter vom Tod.
An den Vormittagen kommen Bruder und Schwägerin um ihre Vollmachten auszuüben, denn Harold ist der Testamentsvollstrecker. Es würde Jerome nicht gefallen, wende ich ein, wie ihr seine Sachen behandelt. Er war so sehr auf Diskretion bedacht, daß ich nur selten ohne seine ausdrückliche Erlaubnis gewagt habe, in seinem Schreibtisch nach etwas zu suchen.
Hast du sein Arbeitszimmer jemals so ordentlich gesehen? fragen sie.
Es war unser Arbeitszimmer, und sie wissen es, denn sie haben meinen Schreibtisch unberührt lassen. Aber es geht nicht um die Schreibtische oder um andere Gegenstände, sondern um ihre nachdrückliche, noch unausgesprochene Warnung, nichts als mein Eigentum zu betrachten und nichts anzurühren.
Es ist keine große Leistung, alles in Müllsäcke zu stopfen und wegzuwerfen, entgegne ich. Er hat nie etwas weggeworfen.
Aber auch ich habe begonnen, in den schlaflosen Nachtstunden in seinen Sachen zu wühlen. Am Anfang schäme ich mich, später habe ich einen Grund: ihnen zuvorzukommen. Es kommen keine großen Geheimnisse ans Tageslicht, nichts, was ihn in Frage gestellt hätte, nur die kleinen Lügen, die Schmerz zufügen, weil sie so unerwartet auftauchen und niemand da ist, um sie zu erklären. Wer am Morgen fortgeht, um einzukaufen, eine Klientin zu treffen, vielleicht ein paar Stunden im Büro zu verbringen und spätestens gegen Abend zu Hause zu sein, hat keine Zeit, vor seinem Tod Spuren zu verwischen. Ich möchte ihn vor den Übergriffen seiner Verwandten schützen, wenn sie über die Kartons und Laden herfallen, wegwerfen, bevor ich Einspruch erheben kann.
Er hat alle meine Briefe aufbewahrt, sage ich, wo sind die, sie waren in der Lade im Eßzimmerschrank, die jetzt leer ist.
Sie waren für den Nachlaß unerheblich, erklärt Emily, sie sind in irgendeinem der vierzig Müllsäcke, die für die Müllabfuhr auf der Straße stehen, du kannst sie ja suchen, wenn es dir nicht zu dumm ist. Private Korrespondenzen, mit wem auch immer, sind eine lästige Nebensächlichkeit für sie und durch seinen Tod überflüssig geworden. Sie ist stolz auf die Ordnung, die sie geschaffen hat, seit sie am Abend nach seinem
Tod das Haus betrat. Langsam kenne ich mich hier aus, sagt sie befriedigt, und kann alles auf Anhieb finden.
Sie fordern die Plastikkarten ein, ohne die ein Leben in Amerika kaum vorstellbar ist, Versicherungskarten, Kreditkarten, Mitgliedskarten, Krankenversicherung, Autoversicherung, Bankomatkarte, Autotouringclub, ich fächere sie auf dem Wohnzimmertisch auf, als breite ich mein Leben vor ihnen aus. Ein Leben, das beweist, wie untrennbar wir verbunden waren, auch durch die Verträge, die wir als Paar geschlossen hatten und die nun nicht aufgekündigt werden können, ohne mein bisheriges Leben zusammen mit Jeromes Existenz zu annullieren. Sie fordern mich auf, die Karten mit der Küchenschere zu zerschneiden. Warum hat er ihnen erlaubt, mich wie ein Kind zu behandeln, dem man zur Strafe alles wegnimmt, was das Leben angenehm macht, und von dem man auch noch verlangt, es selber zu zerstören? Es ist nur Plastik, sage ich mir, und sie helfen
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