Wenn du wiederkommst
Balkon aus überblickte man ganz Boston bis zur Back Bay und zum Meer. Die Wohnung sah aus, behauptet Prabodh, als habe er es sich während des Einzugs anders überlegt und nie zu Ende ausgepackt. Die meisten Gegenstände verharrten in einem Zustand der Vorläufigkeit, die Koffer in Türnähe, bereit zum Auszug. Er hatte wertvolles Meißner Porzellan, aber er machte keinen Unterschied zwischen den Kunstgegenständen und den Souvenirs, die er von irgendeiner Freundin bekommen hatte. Ich erinnere mich an eine besonders geschmacklose Gipsfigur, einen fetten, nackten Mann, der auf einer Schildkröte ritt. So hat er gelebt, erzählt Prabodh, zwischen rutschenden Zettelhaufen und Bergen von Zeitschriften, wie ein chaotischer Gelehrter. Er war ein unglaublich spiritueller Mensch, dem die materielle Welt wenig bedeutete, aber gutes Essen und alte Weine, Musik und Geselligkeit waren ihm wichtig, in dieser Beziehung war er einer der kultiviertesten Menschen, die ich je gekannt habe.
Ich höre ihm schweigend zu, wie er Vijay von seinem Freund erzählt, und ich denke, er redet von Jerome, aber es ist ein anderer als der, den ich liebte, ich erkenne ihn wieder in einigen Details, und dennoch klafft ein Abgrund zwischen seiner Erinnerung und meiner, aber vielleicht liegt die Wahrheit dort, in diesem Abgrund. Je länger ich diesem alten Mann gegenübersitze, den ich fast zwanzig Jahre lang nicht gesehen habe, desto deutlicher erkenne ich die kühnen aristokratischen Züge von damals wieder, als er mit Pamela bei uns auf dem Balkon saß und ich für kurze Zeit Jeromes Königin war, genau so, wie er es mir im Flugzeug nach Tel Aviv in Aussicht gestellt hatte, ohne dabei an mich zu denken.
Ich hätte gar keine andere Wahl gehabt, als die Welt zu lieben,
die Jerome mir täglich zum Geschenk machte, jeden Tag eine neue Facette seiner Stadt, alles, was er mir zeigte, war neu und überraschend, Boston mit seiner europäischen Eleganz, Symphony Hall und die Theater ein paar Häuserblöcke von Chinatown entfernt, die Silhouette der Stadt mit den beiden Hancock Türmen und dem Prudential Center, eisblau gegen den Abendhimmel, wenn wir von Cambridge über den Charles River fuhren, das Meer an Wochenenden, die Rituale auf dem Weg dorthin, die wir im Lauf der Monate erfanden, das Waldstück mit dem einsamen Farmhaus an der Landstraße, das aussah wie Hoppers Gemälde Solitude , die Imbißbuden entlang der Küste, wo Jerome Hummerscheren für mich knackte und mir die gebutterten Maiskörner von ihren Kolben schälte, weil mir die Sitte, sie wie eine Fleischkeule abzunagen, barbarisch vorkam. Es war ein Ausnahmezustand, der etwas Irreales hatte, wir lebten wie auf einer Insel, ohne Vergangenheit und ohne Alltag. Erstaunlich, daß er mehr als ein Jahr lang anhielt. Was mich anzog, war nicht nur, daß er mich ohne Vorbehalte annahm und keinen Makel an mir fand, sondern auch, daß er eine Welt verkörperte, an deren Schwelle ich schon seit langem gestanden war und die ich als eine mir geistesverwandte ersehnt hatte. Damals liebte ich nicht nur ihn, ich liebte uns, ich leistete es mir zum erstenmal in meinem Leben, mich mitzulieben und mir Gutes zu tun, mich sogar ein wenig zu verwöhnen, weil er mich liebte. Ich hatte die Freiheit, mich ganz neu für ihn zu erschaffen, denn ich kam aus einer ihm unbekannten Welt, ich konnte die Frau für ihn sein, die ich gern gewesen wäre, und er würde nicht sagen, sei dir selber treu, und damit meinen, paß dich dem Bild an, das ich von dir habe. Ich war ich selber, wie ich hätte sein können. In seiner Sprache konnte ich eine andere werden, von der ich dachte, sie sei mir näher
als die unzufriedene junge Frau voller Selbstzweifel, die ich bis dahin gewesen war.
Alles erschien uns als Huldigung an unsere Liebe, die festliche Beleuchtung eines Restaurants, die Freundlichkeit der Kellner und alle Zufälle, die uns gewogen waren. Aber wie kann ich sicher sein, daß diesen Bildern zu trauen ist, sie flimmern wie phantastische Projektionen über eine leere Leinwand, auf der die wirkliche Geschichte noch nicht begonnen hat, und dieses magische Jahr ist so weit weg, Jugend gehört jetzt anderen, sie gehört uns nicht mehr, nicht einmal als Erinnerung. Es gibt zu wenige Fotos aus dieser Zeit, die Gegenwart war nichts, was wir im Bewußtsein ihrer Flüchtigkeit für später aufbewahren wollten. Nie wieder haben wir so intensiv das Glück eines jeden Augenblicks ausgekostet. Vor ein paar Tagen hielt ich einen
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