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Wenn du wiederkommst

Titel: Wenn du wiederkommst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Mitgutsch
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nicht genießen, ich mache niemandem mehr eine Freude, wenn ich mich darauf konzentriere, meine Geschmacksempfindungen zu beschreiben.
    Davor sind wir zum Temple Beit El gefahren und haben Judy getroffen, die uns begrüßte, als seien wir von einer langwierigen Krankheit genesen. Beit El ist eine große reformierte Synagoge, mit einem Kantor, der sich auf der elektrischen Gitarre begleitet, und einer Rabbinerin, und wir sind seit vielen Jahren nicht dort gewesen, aber Ilana will für ihren Vater Kaddisch sagen, wie sie es seit dem Begräbnis täglich tut, nicht immer in der Synagoge mit einem Minjan, wie es Vorschrift ist, oft auch allein in ihrer Wohnung, und sie will Rabbi Schaefers Toleranz nicht auf die Probe stellen. Vielleicht hat er es sich ja anders überlegt und erlaubt es Töchtern nicht mehr, meint sie.
Bei Rabbi Akiba steht, daß das Kaddisch die Verstorbenen vor der Verderbnis bewahre, für den Fall, daß es die Hölle geben sollte, erzählt sie während der Fahrt.
    Wir haben beide, unabhängig voneinander nach Büchern über den Tod gesucht. Ich kann im Augenblick nichts anderes lesen, sage ich, der Tod ist zu gegenwärtig, eigentlich kann ich überhaupt nichts lesen, denn alle Bücher, deren Klappentexte Auskunft über den Tod versprechen, sind Ratgeber und handeln vom Leben.
    Ilana ist zu einer Frömmigkeit zurückgekehrt, die sie nach den Jahren als Betreuerin im Sommerlager religiöser Jugendlicher abgelegt hatte. Sie sagt, die Regelmäßigkeit des Kaddisch käme ihr entgegen, es sei, als mache sie damit ihrem Vater jeden Tag eine kleine Freude. Es sei nicht ein Gebet wie jedes andere, sondern ein Geschenk an ihn, so als seien die Rollen vertauscht und sie müsse jetzt für ihn sorgen. Wenn ich Kaddisch sage, erklärt sie mir, rede ich mit ihm und gleichzeitig über ihn, und ich merke es an der Art, wie mich die andern ansehen, daß sie es wissen. Vielleicht, überlegt sie, ist Trauer gar nicht anders möglich als in ritualisierten Formen, sonst wird sie zu maßlos, zu gefährlich.
    Ich bin vom Tod zu unerwartet überwältigt worden, erwidere ich, da können mich weder Gott noch Rituale retten.
    Was ich nicht sage ist, daß Jerome der Boden unter meinen Füßen war und jetzt alle Zugehörigkeiten ungewiß geworden sind, ich werde sie auf einem neuen Fundament errichten müssen. Im Augenblick weiß ich selber nicht mehr mit der alten Sicherheit, wer ich bin. Als ich vor drei Jahrzehnten die Welt des amerikanischen Judentums entdeckte, war mir nicht bewußt, daß ich in einen bestimmten Abschnitt seiner historischen Entwicklung eingetreten war, ich dachte, so sei
es immer gewesen, so und nicht anders müsse es sein: die reformierten Synagogen in den Vorstädten mit ihren kulturellen Angeboten, den Abenden mit israelischer Folklore, mit Bibelexegese, Vorträgen und den gemeinsamen Festen mit ihrer herzlichen, familiären Atmosphäre, in die alle Neuen ohne Mißtrauen aufgenommen wurden. Das religiöse Ferienlager, in das wir unsere Tochter jeden Sommer schickten und dessen Gebetsmelodien wir übernahmen, prägte eine ganze Generation. Es waren Erfahrungen der Zugehörigkeit und der Gemeinsamkeit, selten schmerzlich, öfter beglückend, als wäre alles, was ich hinzugewann, die Antwort auf ein vorhandenes Bedürfnis, dessen ich mir erst in der Erfüllung bewußt wurde. Ein Jahrzehnt früher oder ein paar Jahre später wäre alles anders und die Aufbruchsstimmung der Nachkriegsgeneration verbraucht gewesen, aber das erkannte ich erst im Lauf der Zeit, je mehr Bücher ich darüber las. Für Ilana war alles einfacher, sie lernte den Entdeckungseifer und die Begeisterung von mir und das Lebensgefühl der Traditionen von ihrem Vater.
    Sie werde es am Ende der dreißig Trauertage vermissen, Kaddisch zu sagen, gesteht Ilana, sie wünschte, es wäre noch lange nicht zu Ende. Ich werde von neuem verwaist sein, sagt sie. Ich sehe sie an, wie sie am Steuer sitzt und durch die Dämmerung fährt. Immer, wenn ich sie unbemerkt beobachte, kommt die Erkenntnis, daß sie meine Tochter ist, wie eine freudige Überraschung über mich. Es ist einer der langen stillen Frühsommerabende mit einem Himmel, der erst nach Sonnenuntergang zu leuchten beginnt. Ich betrachte ihr klares Profil mit seinen von der Jugend noch weichen Konturen und sehe, wie sich plötzlich ihr Gesicht sekundenlang verkrampft und sie die Augen zusammenkneift.

    Was ist, frage ich besorgt, tut dir was weh?
    Er fehlt mir so, antwortet sie gepreßt, es

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