Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wenn du wiederkommst

Titel: Wenn du wiederkommst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Mitgutsch
Vom Netzwerk:
überkommt mich manchmal ganz heftig und unerwartet.
    Ich lege meinen Handrücken an die roten Flecken, die ihr vom Hals in die Wangen steigen. Ich weiß, es ist ein Schmerz wie ein jäher Stich, und jedesmal trifft er einen unvorbereitet, und wenn er ausklingt, wird er dumpf und endgültig.
    Mit der Subway fahren wir am Montag nach Downtown Boston und trennen uns beim Boston Common, wie wir es immer hielten, seit Ilana mit zwölf Jahren beschloß, allein in die Stadt zu fahren, und Jerome es unter keinen Umständen erlaubte. Damals gewöhnten wir uns an, ihn zu hintergehen und ihr die kleinen Freiheiten zu ertrotzen, die sie brauchte, um selbständig zu werden. Nie hatte er erfahren, daß wir nur auf der Fahrt mit der Subway zusammen gewesen waren.
    Ich brauche nicht zu überlegen, meine Füße suchen sich selbständig ihren Weg zum Old Statehouse, wo Jerome an seinem letzten Tag geparkt hat. Er hatte vor einigen Jahren einen Unfall gehabt und besaß seither eine Plakette für Handicap-Parkplätze. Von da gehe ich mit jedem bewußt gesetzten Schritt seinen letzten Weg, überquere die Washington Street, gehe die Bromfield Road hinauf zur Tremont Street. Ich habe für nichts Augen als für die unsichtbaren Spuren seiner Schritte und glaube zu spüren, wie das Gewicht des Koffers voller Münzen an ihm zerrte. In den engen Gassen zwischen Washington Street und Tremont Street sind die kleinen altmodischen Läden, die sich seit mehr als hundert Jahren auf Schmuck und Numismatik spezialisieren. Bereits als Kind, als er Münzen zu sammeln begann, kam Jerome mit seinen Eltern hierher, um sich ein Geburtstagsgeschenk auszusuchen. Das vornehmste Geschäft für numismatische Raritäten ist das J.J.
Teaparty. Ich stehe davor, wie er davor gestanden sein mag, zumindest einen Augenblick lang, um nach dem anstrengenden Fußmarsch zu verschnaufen. Please ring for admittance steht an der verschlossenen Glastür. Durch das Schaufenster betrachte ich die elegante Holztäfelung des Raums, er sieht aus wie eine alte Apotheke in meiner Kindheit, mit einem hohen Tresen aus Glas, unter dem auf grünem Samt Münzen liegen. Zwei Kunden sind im Gespräch mit einem Angestellten in grauem Anzug mit Krawatte. Genauso muß es vor einem halben Jahrhundert ausgesehen haben, als Jerome ein Kind war, und einem weiteren halben Jahrhundert davor, als andere, die längst tot sind, hier seltene Münzen kauften. Die virtuelle Realität von Münzen übte eine große Faszination auf ihn aus, das Glücksversprechen, das ihr Besitz seit jeher bedeutete, und auch die zerstörerischen Kräfte, die sie in Gang setzen konnten. Stell dir die Hände vor, durch die sie gegangen sind, sagte er ehrfürchtig, Münzen sind das egalitärste und dauerhafteste, das von einem Volk bleibt. Rundum flutet das einundzwanzigste Jahrhundert durch die Straßen, Rapmusik dringt aus Strawberry’s Musikladen, aber in J.J.Teaparty ist die Zeit stehengeblieben. Ich stehe davor und wage nicht zu läuten. Ich wüßte nicht, was ich sagen sollte, und fürchte mich davor, genau an die Stelle zu treten, an der Jerome stand, und denselben Ausschnitt des Verkaufsraumes zu sehen, das letzte, was er wahrnahm, bevor die Dunkelheit ihn überfiel. Ich fürchte die unsichtbare Gegenwart des Todes in diesem Raum so sehr, daß ich draußen bleibe und weitergehe, hinauf zum Granary Burial Ground mit den Grabsteinen aus verwittertem Schiefer und dem Hartriegelbäumchen zwischen den hohen Mauern, das im Lauf der Jahre eine besondere Bedeutung für mich gewonnen hat. Mit seinem zierlichen Wuchs und seiner perfekten Symmetrie erscheint
es so jugendlich unter den alten Bäumen, und jedes Frühjahr verkörpert seine exotische Pracht Tausender zarter weißer Blüten in der Düsternis des alten Friedhofs die Stimmung heiterer Erwartung. Diesmal nehme ich auf dem Weg zu unserer Bank im Public Garden, während ich den sanften Hügel des Boston Common hinuntergehe, die auf dem Rasen lagernden Menschen als etwas ganz und gar Fremdes wahr.
    Es ist wieder ein wolkenloser Tag wie vor vier Wochen, aber nun ist es Sommer und das Laub dichter, sommerlich gekleidete Familien und Paare flanieren an mir vorbei, der sonntägliche Park gleicht einem Gemälde von Monet oder Prendergast, festlich und voll Licht, und an der kleinen gewölbten Brücke über den Teich steht ein Straßenmusikant mit einer Drehorgel. Es ist halb drei Uhr nachmittags, die Zeit, die auf der Todesurkunde angegeben ist, und es geht noch immer über

Weitere Kostenlose Bücher