Wenn es Nacht wird: Psychothriller (German Edition)
anzurufen, hatte ich keine sonderlich begeisterte Reaktion erwartet, doch auf einen derart feindseligen Ton war ich nicht gefasst gewesen.
»Es geht um Caddy.«
»Caddy?«
»Sie ist tot, Dylan. Ich habe sie heute Nacht gefunden. Sie lag neben dem Boot im Wasser. Ich habe ein Geräusch gehört, nachgesehen und sie im Wasser gefunden.«
Ein tiefer Atemzug, gefolgt von einer Pause. »Verdammte Scheiße. Was zum Teufel wollte sie dort?«
»Sie sollte zu meiner Party kommen, aber sie ist nicht erschienen, und –«
»Warum zum Teufel hast du sie zu deiner Party eingeladen?«
Irgendwo in meinem verwirrten Kopf registrierte ich, dass ihn der schreckliche Tod eines Menschen, den wir beide gut kannten, nicht zu schockieren schien. Gab er etwa mir die Schuld daran? Weil ich sie zur Party eingeladen hatte?
»Was soll ich machen?«, fragte ich kläglich.
»Hast du ihnen irgendwas gesagt?«
»Nein, nichts. Ich habe nicht gesagt, dass ich sie kannte. Was soll ich nur machen, Dylan? Ich habe solche Angst.«
Eine Pause entstand. Ich konnte keine Hintergrundgeräusche ausmachen, weder Verkehr noch Stimmen. Ich fragte mich, ob er zu Hause war oder im Auto saß. Ich wäre gerne bei ihm gewesen, egal wo er sich gerade befand. Hätte ich ihn nur sehen, sein Gesicht sehen können, wäre der ganze Albtraum längst nicht so schlimm. Eine Welle tiefer Traurigkeit erfasste mich.
»Halte dich bedeckt, okay? Ich melde mich wieder.«
Ich wollte noch etwas zu ihm sagen, irgendetwas – aber was? Dass er mir fehlte? Dass ich ihn sehen wollte? Doch er ließ mich nicht zu Wort kommen. Er legte auf.
Ich hatte so lange darauf gewartet, mit ihm zu reden. Und alle Gespräche, die ich mir jemals ausgemalt hatte, ähnelten diesem nicht im Entferntesten. Trotz meiner Erschöpfung und meiner Angst hatte ich etwas registriert: Er hatte es bereits gewusst. Er hatte bereits gewusst, dass Caddy tot war.
6
In der Kajüte herrschte nach wie vor ein großes Durchei nander. Ich starrte es eine Zeit lang an, ohne es wirklich wahr zunehmen, während mein Verstand versuchte, durch den Nebel von Müdigkeit und Alkohol das Bild von Caddy im Wasser zu verarbeiten.
Ich machte mich ans Aufräumen, kehrte die Brotkrümel zusammen, wusch die Teller im Spülbecken ab, arbeitete mich systematisch voran und wandte dem Chaos hinter mir den Rücken zu. Die Wolken hatten sich gelichtet, durch die Luke über dem Waschbecken sah ich den Fluss friedlich glitzernd in der Sonne liegen. Er sah genauso aus wie an je dem anderen sonnigen Tag, und für einen Augenblick konnte ich mich auf das konzentrieren, was meine Hände taten, und die vergangene Nacht vergessen.
Nachdem ich alles gespült und abgetrocknet hatte, war ich fast versucht, alles noch einmal zu waschen, nur um in der Wärme und Geborgenheit dieses Augenblicks verweilen zu dürfen. Ich räumte alles weg, ließ aber die Lasagneformen auf dem Tisch in der Essecke stehen. Ich wollte sie Joanna später vorbeibringen. Im Badezimmer stank es entsetzlich, doch ich wollte den Toilettenkasten nicht leeren, solange der Ponton noch von Polizisten wimmelte. Ich nutzte erneut den Eimer und schloss die Tür hinter mir.
Der neue Raum war so, wie ich ihn verlassen hatte, die Vertäfelung samtweich durch den letzten Abschliff, im Sonnenlicht tanzten Sägespäne. Es roch nach frischem Holz – es war fast eine Schande, es zu übermalen.
Der Holzduft erinnerte mich wie immer an meinen Vater. Bestimmte Gerüche führten mich zu seiner Werkstatt zurück, einem großen Schuppen hinter unserem Haus, ein Wellblechdach auf Zementpfeilern. Dort roch es nach Leinöl, Terpentinöl, eingelegten Zwiebeln, Gerstenzucker und Maschinenöl. Mein Vater war ein praktisch veranlagter Mensch gewesen. Er konnte alles richten, alles bauen und alles reparieren. Er graste Flohmärkte nach Einzelteilen oder ausrangierten Stücken ab, die wiederverwendet, umgearbeitet oder mit ein wenig Sorgfalt und Liebe erneut benutzt werden konnten. Seine Werkstatt war voller Einweckgläser, die mit irgendwelchen Schrauben, Muttern, Bolzen, Nägeln, Konden satoren, Widerständen und Sicherungen gefüllt und an ihren Halterungen an die mit Spinnweben überzogenen Balken genagelt waren. Er sammelte nicht nur wahllos Maschinenteile, sondern auch Autos, die heute Oldtimer gewesen wären: einen Ford Escort Mark II , einen Citroen 2 CV und einen Lotus, der niemals fuhr, obwohl er ständig daran herumbastelte. Meine Mutter tolerierte das alles, denn so war er ihr im
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