Wenn es Nacht wird: Psychothriller (German Edition)
riechen konnte.
»Ja, das habe ich gehofft«, sagte ich.
»Nun, im Gegensatz zu dir bin ich ein Profi. Mir ist meine Karriere sehr wichtig. Und falls du es wissen willst, habe ich deine Freunde bei der Polizei angezeigt, weil sie mich überfallen haben. Die Polizei war auch an dir äußerst interessiert.«
Ich biss mir auf die Lippe. Bestimmt log er. Dunkerley war nicht dumm – er hätte den Vorfall niemals bei der Polizei gemeldet, nicht nach der Verwarnung, die er bekommen hatte.
»Aber ich werde ein Auge zudrücken, wenn du dasselbe tust.« Er drehte sich um und ging zu seinem Schreibtisch.
Mir war übel, als ich das Büro verließ und die Tür hinter mir schloss. Gavin und Lucy waren verschwunden, das Hauptbüro war leer. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, loggte mich am Computer ein und wartete, bis die E-Mails geladen waren. Ich ging die Liste ungelesener Mails durch: Vier oder fünf waren von Kunden und bezogen sich aufVerträge, an denen ich arbeitete. Zwölf waren von Dunkerley; er hatte mir seit sieben Uhr vierundzwanzig eine nach der anderen geschickt. In der Betreffzeile stand einmal »Neue Arbeitsregeln«, drei Mal einfach nur »Meeting«, eine Mail um neun Uhr eins betraf die Arbeitszeiterfassung. Während ich mir alles ansah, kam die dreizehnte Mail. Betreff: »Kleiderordnung«.
Ohne auch nur eine Mail gelesen zu haben, schloss ich das Mailprogramm und öffnete ein neues Word-Dokument.
Zehn Minuten später kehrten Gavin und Lucy mit ihrem Latte macchiato im Pappbecher zurück, den sie sich im Café im Erdgeschoss gekauft hatten, lachten über irgendwas und unterhielten sich zwanglos.
»Alles in Ordnung?«, fragte Lucy, als sie mein Gesicht sah.
»Nicht wirklich«, sagte ich und zog ein Blatt aus dem Drucker.
»Was ist los?«
Ich konnte mich nicht einmal überwinden, ihr zu antworten. Ich faltete den Brief, machte mir nicht die Mühe, ihn in einen Briefumschlag zu stecken, nahm meine Tasche und meinen Mantel und ging hinauf in das Stockwerk der Geschäftsleitung. Dort war gerade ein Meeting im Gange.
»Dauert es lange?«, fragte ich.
Linda, die persönliche Assistentin, sah mich verblüfft an. »Das kann ewig dauern. Kann ich dir weiterhelfen?«
»Ich warte lieber, wenn es dir nichts ausmacht«, sagte ich. Der Gedanke, nach unten zu gehen und Dunkerley noch einmal zu begegnen oder Lucy und Gavin irgendwas erklären zu müssen, war mir unerträglich.
Ich sah auf die Zeiger der Uhr über Lindas Kopf, die langsam dahinkrochen. War es das, was ich wirklich wollte? Es sah mir so gar nicht ähnlich. Ich hatte noch nie aufgegeben. Vielleicht sollte ich die Sache ausfechten. Doch alleine schon beim Gedanken weiterzumachen …
Zehn Minuten.
Die Türen zum Aufzug öffneten sich, und Lucy kam heraus. Ich fragte mich, wieso sie den Lift genommen hatte. Sie sah mich an und überreichte Linda ein paar Berichte.
Ich weiß nicht, ob es Lucys Anwesenheit war, die mich handeln ließ, oder einfach nur die Tatsache, dass ich hier keine Minute länger bleiben wollte. Ich stand auf, ging zur Bürotür und riss sie auf. Simon Lewis, der Firmenboss, saß mit drei weiteren Leuten am Konferenztisch, einer von ihnen war ein Kunde, mit dem ich im Vorjahr ein größeres Geschäft abgeschlossen hatte. Das Gespräch erstarb, alle drehten sich um und sahen mich an. Ich ging zu ihnen und legte Simon den gefalteten Brief auf den Tisch.
»Genevieve? Was ist los?«, fragte er. Trotz meines theatralischen und unangekündigten Auftritts war er freundlich, sodass ich es fast bereute, den Brief wieder mitgenommen und mich für die Störung entschuldigt hätte.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich muss kündigen.«
Ich zog die Tür hinter mir zu und lief an Lucy vorbei, die mit offenem Mund neben Lindas Schreibtisch stand. Ich ging die Treppe hinunter – nahm nicht den Lift – und rannte fast, als ich im Erdgeschoss angekommen war. Durch den Empfangsbereich verließ ich das Gebäude, und obwohl mein Herz wie wild klopfte, überkam mich plötzlich eine riesige Erleichterung. Ich würde nie wieder zurückkehren.
Ich fuhr mit dem Taxi nach Hause. Nachdem ich mir ein heißes Bad eingelassen und noch eine Weile wach gelegen und über die Vorfälle der vergangenen zwei Tage nachgedacht hatte, schlief ich endlich ein. Als ich am Nachmittag aufwachte, zog ich mir einen Rock, Sandalen und eine Jeansjacke an und eilte mit der Sonnenbrille auf der Nase zum Bus, der mich zur Victoria Station brachte.
Es war viel los, überall
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